Irgend etwas in ihrem Hirn schien zu gefrieren, und es war, als schöbe sich ein dünner Schleier zwischen sie und die Wirklichkeit. Sie hörte ihres Vaters Stimme: Was machst du denn hier allein im Dunkeln? Und er nahm sie in die Arme und trug sie in ihr Bett, und sie stand auf der Bühne, tanzte, drehte sich, wirbelte um die eigene Achse, konnte nicht mehr aufhören, und Mme. Netturova kreischte ihr in die Ohren - oder war es der Wind?. Und da war plötzlich Rhys und fragte: Wie oft wird ein Mädchen einundzwanzig? Und Elizabeth dachte: Ich werde Rhys nie wiedersehen; sie schrie seinen Namen in den Wind, und der Schleier riss, aber der Alptraum war nicht gewichen. Ganz nah drohte jetzt die Haarnadelkurve. Der Jeep flog wie ein Geschoß darauf zu. Da vorn würde sie in den Abgrund schießen. Lass es schnell vorbei sein, betete sie leise.
In diesem Moment fing ihr Blick eine Veränderung im Straßenrand ein, rechts, unmittelbar vor der Kurve. Durch die Felswand war eine schmale Feuerschneise geschlagen, ein enger Pfad, der den Berg hinaufführte. In Sekundenbruchteilen musste sie sich entscheiden. Sie hatte keine Ahnung, wohin der Pfad führte. Sie wusste nur: Dort ging es bergauf, das hieß Bremswirkung, hieß, vielleicht, die letzte hauchdünne Chance. Sie entschied sich. Im allerletzten Augenblick riss sie das Lenkrad hart nach rechts. Die Hinterräder brachen aus, aber vorn hatten die Reifen durch den Druck der Geschwindigkeit auf dem feuchten Kies Halt gefunden. Der Jeep rüttelte bergauf. Elizabeth kämpfte mit dem Lenkrad, versuchte, den Wagen auf dem Pfad zu halten. Auf beiden Seiten standen Bäume, und im Vorbeirasen peitschten die Zweige Hände und Gesicht. Sie zwang den Blick nach vorn, und zu ihrem Entsetzen tauchte dort das Tyrrhenische Meer auf, direkt vor ihr, tief unten. Der Pfad hatte nur auf die andere Bergseite geführt, und an der tödlichen Gefahr hatte sich nichts geändert.
Näher und näher kam der Abgrund; der Jeep hatte noch immer zu hohe Geschwindigkeit, als dass sie hätte abspringen können. Die Felskante lag jetzt nur noch wenige Meter entfernt und dann, über hundert Meter tief, das Meer. Der Jeep geriet ins Schleudern, und das letzte, an das Elizabeth sich erinnern konnte, war ein Baum, der unmittelbar vor ihr aufragte. Dann kam eine Explosion, die das Weltall aus den Angeln zu heben schien.
Danach stand die Erde still, und um sie herum wurde alles weiß, friedlich und ruhig.
20. Kapitel
Sie schlug die Augen auf und lag in einem Krankenhausbett. Ihr erster Blick fiel auf Alec Nichols.
»Im Haus ist nichts für dich zu essen«, flüsterte sie. Und brach in Tränen aus.
Alecs Blick war schmerzerfüllt. Er umarmte sie und drückte sie an sich. »Elizabeth!«
»Ist schon gut, Alec«, murmelte sie. »Alles in Ordnung.«
Und seltsam genug: Das war die Wahrheit. Jeder Zentimeter ihres Körpers tat ihr weh, und sie fühlte sich wie durch hundert Mangeln gedreht, aber sie lebte und konnte es kaum fassen. Sie erinnerte sich an den Schrecken der rasenden Talfahrt, und es wurde ihr eiskalt.
»Wie lange liege ich hier schon?« Ihre Stimme war schwach und heiser.
»Seit zwei Tagen, da haben sie dich gefunden. Seitdem bist du bewusstlos gewesen. Der Arzt meint, es ist überhaupt ein Wunder, dass du lebst. Jeder, der den Unfallort gesehen hat, sagt, du müsstest eigentlich tot sein. Einige Leute von der Forstverwaltung haben dich entdeckt und im Eiltempo hierhergebracht. Du hast eine Gehirnerschütterung und bist von oben bis unten mit Beulen und blauen Flecken übersät, aber Gott sei Dank ist nichts gebrochen.« Er sah sie fragend an. »Sag mal, was hast du denn eigentlich da oben in der Feuerschneise gewollt?«
Elizabeth erzählte ihm alles. Sie sah das Entsetzen auf seinem Gesicht, als er die grauenvolle Fahrt miterlebte. »Oh, mein Gott!« entfuhr es ihm immer wieder. Am Schluss war Alec leichenblass. »Was für ein verdammt blöder, furchtbarer Unfall.«
»Das war kein Unfall, Alec.«
Verständnislos sah er sie an. »Was sagst du da?«
Wie konnte er das auch verstehen? Schließlich hatte er den Bericht nicht gelesen. Elizabeth eröffnete ihm: »Jemand hat an den Bremsen manipuliert.«
Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Wer sollte das tun -und warum?«
»Weil -« Nein, sie konnte es ihm nicht sagen. Jedenfalls jetzt noch nicht. Sie vertraute Alec mehr als irgend jemandem sonst, aber noch war es nicht an der Zeit zu reden. Erst musste sie zu Kräften kommen, musste Zeit zum Nachdenken haben.
»Ich weiß auch nicht«, wich sie aus. »Ich bin mir nur sicher, dass jemand dafür verantwortlich ist.«
Sie beobachtete ihn, registrierte aufmerksam den Wechsel seines Gesichtsausdrucks - von Ungläubigkeit über Verwirrung zu Zorn.
»Also, das bekommen wir raus, da hab keine Angst.« Seine Stimme klang entschlossen.
Er nahm den Telefonhörer ab, und wenige Minuten später war er mit dem Polizeichef von Olbia verbunden. »Hier spricht Alec Nichols. Ich - ja, es geht ihr gut, den Umständen entsprechend. Vielen Dank... Ja, danke. Ich werd’s ausrichten. Ich rufe an wegen des Jeeps, mit dem sie gefahren ist. Können Sie mir sagen, wo der sich befindet?. Ach ja? Würden Sie ihn bitte dortbehalten? Und tun Sie mir einen Gefallen, besorgen Sie einen guten Mechaniker. Ich bin in einer halben Stunde da.« Er legte auf. »Der Jeep steht in der Polizeigarage. Ich fahre rüber.«
»Ich komme mit.«
Er sah sie völlig entgeistert an. »Aber Elizabeth! Der Arzt hat dir doch ein, zwei Tage strikte Bettruhe verordnet. Du kannst doch nicht einfach -«
Aber sie konnte. Eine Dreiviertelstunde später war Elizabeth gegen den lauten Protest des Arztes aus dem Krankenhaus entlassen und befand sich mit Alec Nichols auf dem Weg zur Polizeigarage.
Luigi Ferraro, Polizeichef von Olbia, war ein dunkelhäutiger Sarde mittleren Alters, krummbeinig und mit Hängebauch. Der Kriminalbeamte Bruno Campagna, ein Muskelprotz in den Fünfzigern, überragte seinen Chef beträchtlich. Campagna stand neben Elizabeth und Alec, als sie den Mechaniker beobachteten. Er prüfte den Unterboden eines Jeeps, der auf einer hydraulischen Hebebühne hochgefahren worden war. Kühler und linke Vorderachse waren vollkommen demoliert und klebten vom Harz der Bäume, die den Wagen aufgehalten hatten. Beim Anblick des Wracks überkam Elizabeth ein Schwächegefühl, und sie musste sich auf Alec stützen. Er sah sie besorgt an. »Ist das nicht ein bisschen viel für dich?«
»Es geht schon«, übertrieb sie. Sie fühlte sich sehr schwach und entsetzlich müde. Aber sie musste es mit eigenen Augen sehen.
Der Mechaniker wischte sich die Hände an einem öligen Lappen ab und kam auf die Gruppe zu. »So wie der da werden Autos heute gar nicht mehr gebaut.«
Gott sei Dank, betete Elizabeth im stillen.
»Jede andere Kiste war’ in Stücke geflogen.«
»Was ist mit den Bremsen?« wollte Alec wissen.
»Die Bremsen? Die sind tipptopp.«
Elizabeth hatte plötzlich ein irreales Gefühl. »Wie? Was sagen Sie da?«
»Genau das. Die sind prima in Schuss, funktionieren tadellos. Trotz des Unfalls sind sie einwandfrei, wirklich. Darum sag’ ich ja, so was Grundsolides gibt es heute nicht mehr.«