Als Walther alt genug war, dem Waisenhaus zu entfliehen, hatte er schnell herausgefunden, dass die Welt draußen keineswegs besser war. Die Frauen waren hinter ihm her, seines guten Aussehens wegen, sie trugen ihn wie eine Medaille, aber es reichte nie zu einer tieferen Bindung. Sie schenkten ihm Geld, Kleider und Schmuck, aber kein Stück von sich selbst.
Ihre Seelen waren im Gleichklang, ging Anna auf. Walther war ihr Doppelgänger. Sie heirateten im Rathaus, ganz ohne Zeremoniell.
Anna war davon überzeugt gewesen, ihren Vater außer sich vor Freude zu finden. Statt dessen konnte er vor Wut kein Wort herausbringen. »Du dumme, eingebildete Gans!« schrie er sie an. »Ausgerechnet einen nichtsnutzigen Mitgiftjäger zu heiraten! Ich habe Nachforschungen anstellen lassen. Der Kerl hat sein Leben lang von Frauen gelebt, aber bis jetzt hat er keine gefunden, die dumm genug war, ihn zu heiraten.«
»Hör auf!« schrie Anna zurück. »Du hast keine Ahnung, du kannst ihn ja gar nicht verstehen.«
Doch Anton Roffe wusste, er verstand Walther Gassner nur zu gut. Er zitierte seinen frischgebackenen Schwiegersohn zu sich ins Büro.
Walther begutachtete voller Anerkennung die feine Ausstattung und die alten Gemälde an den Wänden. »Hier gefällt es mir«, stellte er fest.
»Das glaub’ ich. Ist bestimmt angenehmer als das Waisenhaus.«
Walther sah ihn mit plötzlich misstrauischen Augen an. »Wie bitte?«
»Hören wir doch auf mit der Komödie«, sagte Anton. »Sie sind einem Irrtum erlegen. Meine Tochter besitzt kein Geld.«
Walthers graue Augen schienen sich in Stein zu verwandeln. »Was wollen Sie mir da vormachen?«
»Ich will Ihnen gar nichts vormachen. Ich sage Ihnen bloß, wie sich die Sache verhält. Hätten Sie Ihre Hausaufgaben gründlicher gemacht, wäre Ihnen bekannt, dass Roffe und Söhne ein nach strengsten Regeln geführtes Privatunternehmen ist. Mit anderen Worten: Keine einzige Aktie kann veräußert werden. Wir leben komfortabel, aber damit hat es sich auch. Hier gibt es keine goldene Kuh zu melken.« Er griff in seine Tasche, brachte einen Umschlag zum Vorschein und warf ihn auf den Schreibtisch, direkt vor Walther. »Das hier wird Sie für Ihre Mühe entschädigen. Ich erwarte, dass Sie noch heute abend Berlin verlassen. Anna soll Sie nie wieder zu Gesicht bekommen.«
Walthers Stimme blieb ganz ruhig. »Haben Sie jemals daran gedacht, dass ich Anna geheiratet haben könnte, weil ich sie liebe?«
»Nein. Sie etwa?« gab Anton beißend zurück.
Walther sah ihn eine Weile an. »Wollen mal sehen, wie hoch mein Marktwert ist.« Er riss den Umschlag auf und zählte die Scheine. Dann blickte er wieder auf. »Ich selbst schätze mich wesentlich höher ein als zwanzigtausend Mark.«
»Das ist alles, was Sie bei mir rausschlagen, und Sie können sich noch glücklich schätzen.«
»Das tue ich auch«, erwiderte Walther. »Und wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, halte ich mich sogar für einen ausgesprochenen Glückspilz. Vielen Dank.« Mit lässiger Gebärde stopfte er das Geld in die Hosentasche und war im nächsten Moment verschwunden.
Grenzenlose Erleichterung überfiel Anton Roffe. Zwar hatte er schwache Schuldgefühle und einen bitteren Nachgeschmack im Mund, doch er wusste, das war die einzige Lösung gewesen. Natürlich würde Anna traurig sein, von ihrem Ehemann derart schnöde im Stich gelassen zu werden. Aber besser jetzt als später, dachte Anton. Er würde alle Hebel in Bewegung setzen, einen akzeptablen Mann ihres Alters für sie aufzutreiben, der sie wenigstens in Ehren hielt, wenn er sie schon nicht liebte. Jemand, der an ihr als Mensch interessiert war und nicht bloß an ihrem Namen oder Geld. Vor allem jemand, der nicht für zwanzigtausend Mark käuflich war.
Als Anton Roffe nach Hause kam, lief ihm Anna zur Begrüßung entgegen, Tränen in den Augen. Er schloss sie fest in die Arme, sagte: »Mein Liebling, alles wird gut werden. Du wirst ihn vergessen und -«
Anton sah ihr über die Schulter, und in der Tür stand Walther Gassner. Anna hielt einen Finger hoch. »Sieh doch nur, was Walther mir gekauft hat! Ist das nicht der schönste Ring, den du jemals gesehen hast? Stell dir vor, er kostet zwanzigtausend Mark!«
Mit der Zeit sahen sich Annas Eltern gezwungen, Walther Gassner als Schwiegersohn zu akzeptieren. Als nachträgliches Hochzeitsgeschenk kauften sie dem jungen Paar eine prächtige alte Villa in Wannsee, von Schinkel erbaut, mit französischem Mobiliar, Antiquitäten, behaglichen Sitzgruppen, einem Empiretisch in der Bibliothek und Bücherregalen bis an die Decke. Das Obergeschoß war mit eleganten Möbeln aus Schweden, achtzehntes Jahrhundert, ausgestattet.
»Das geht nicht«, sagte Walther. »Ich will nichts von denen, auch nicht von dir, wenigstens nichts Materielles. Vielmehr will ich es sein, Liebling, der dir schöne Sachen kauft.« Und er setzte sein jungenhaftes Lächeln auf. »Aber leider habe ich kein Geld.«
»Natürlich hast du!« rief Anna. »Alles, was ich besitze, gehört auch dir.«
Walthers Lächeln erschien ihr unbeschreiblich süß. »Wirklich?«
Obwohl er sich anfangs sträubte, über Geldangelegenheiten zu sprechen, bestand Anna darauf, ihrem Mann ihre finanzielle Lage zu erläutern. Sie besaß ein Treuhandvermögen, von dem sie bequem leben konnte, doch der Löwenanteil ihres Besitzes bestand aus Aktien von Roffe und Söhne. Und die konnten nur mit einstimmiger Billigung des Direktoriums verkauft werden.
»Wieviel ist denn dein Anteil wert?« erkundigte sich Walther.
Anna verriet es ihm. Walther traute seinen Ohren nicht. Er ließ sie die Summe wiederholen.
»Und du kannst die Aktien nicht verkaufen?«
»Nein. Mein Vetter Sam sitzt darauf wie eine Glucke. Er hat den Mehrheitsanteil. Eines Tages...«
Walther zeigte Interesse am Konzern. Er wollte in das Familienunternehmen einsteigen. Anton Roffe war strikt dagegen.
»Was kann so ein Ski-Heini schon für Roffe und Söhne leisten?« wollte er wissen.
Doch schließlich gab er seiner Tochter nach, und Walther bekam einen Job in der Verwaltung der Berliner Niederlassung. Er zeigte außerordentliches Geschick und stieg schnell auf. Als Annas Vater zwei Jahre später starb, wurde Walther Mitglied des Direktoriums. Anna war unendlich stolz auf ihn. Er war der vollendete Ehemann und Liebhaber. Stets brachte er ihr Blumen und kleine Geschenke mit, und abends schien er voll und ganz damit zufrieden, zu Hause zu bleiben. Anna war überglücklich. »Lieber Gott, ich danke dir viele, viele Male«, pflegte sie leise zu beten.
Sie lernte kochen, um Walther seine Lieblingsgerichte vorsetzen zu können.
»Du bist der beste Koch der ganzen Welt, mein Liebes«, pflegte Walther jedes Mal zu sagen, und Anna bekam vor Stolz einen roten Kopf.
In ihrem dritten Ehejahr wurde Anna schwanger.
In den ersten acht Monaten hatte sie oft große Schmerzen, aber sie ertrug sie gern. Etwas anderes dagegen machte ihr Sorgen.
Es begann eines Tages nach dem Mittagessen. Sie strickte einen Pullover für Walther und gab sich dabei ihren Tagträumen hin. Plötzlich hörte sie Walther sagen: »Du liebe Güte, Anna, warum sitzt du denn hier im Dunkeln?«
Es war Abend. Sie sah auf den Pullover in ihrem Schoß und merkte, dass sie keine Masche gestrickt hatte. Wie war der Tag so plötzlich vergangen? Wo war sie mit ihren Gedanken gewesen? Danach häuften sich ähnliche Vorkommnisse, und sie fing an, sich zu überlegen, ob dieses Weggleiten ins Nichts eine bestimmte Bedeutung haben könnte: Vorbote ihres Todes? Eigentlich hatte sie keine Angst vor dem Sterben, nur konnte sie den Gedanken nicht ertragen, Walther allein zurückzulassen.
Vier Wochen, bevor das Baby geboren werden sollte, verfiel Anna wieder einmal in einen ihrer Tagträume. Sie verfehlte eine Stufe und stürzte die Treppe hinunter.