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Anna brachte kein Wort heraus.

»Hier Polizeinotruf«, wiederholte die Stimme. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ja!« Es war ein mühsam unterdrückter Schrei. »Ja, bitte! Ich bin in großer Gefahr. Bitte, schicken Sie jemanden -«

Walther ragte riesig vor ihr auf. Er riss ihr den Hörer aus der Hand, schleuderte sie gegen das Bett. Dann knallte er den Hörer auf die Gabel. Sein Atem ging keuchend. Er riss die Telefonschnur aus dem Stecker und drehte sich zu ihr um.

»Die Kinder«, flüsterte Anna. »Was hast du mit den Kindern gemacht?«

Walther antwortete ihr nicht.

Die Zentrale der Berliner Kriminalpolizei lag in der Keithstraße 28-32 in einer ruhigen Wohn- und Geschäftsgegend im Westen Berlins. Die Abteilung »Delikte am Menschen« war mit einer automatischen Fangschaltung ausgestattet. Der Anruf konnte zurückverfolgt werden, selbst wenn das Gespräch unterbrochen war. Auf diese Weise konnte jeder Anrufer festgestellt werden, so kurz er sich auch fassen mochte. Die hochmoderne Anlage war der Stolz der Abteilung.

Keine fünf Minuten nach Anna Gassners Anruf kam Wachtmeister Paul Lange mit einem Kassettenrecorder in das Büro seines Vorgesetzten, Hauptkommissar Wagemann.

»Hören Sie sich das einmal an.« Wachtmeister Lange betätigte das Gerät. Eine metallische Stimme sagte: »Hier Polizeinotruf. Kann ich Ihnen helfen?«

Dann eine Frauenstimme, in höchster Angst. »Ja! Ja, bitte! Ich bin in großer Gefahr. Bitte, schicken Sie jemanden -«

Darauf ein dumpfer Ton, wie ein Schlag, ein Klicken, und die Leitung war tot. Hauptkommissar Wagemann sah Wachtmeister Lange an. »Und? Haben Sie die Anruferin festgestellt?«

»Wir wissen, von wo der Anruf kam.« Lange drückte sich betont vorsichtig aus.

»Na und? Was behelligen Sie mich dann damit?« raunzte Wagemann ungehalten. »Sagen Sie der Zentrale Bescheid, sie soll einen Wagen schicken zum

Überprüfen.«

»Ich wollte doch lieber erst Ihre Meinung hören.« Und Wachtmeister Lange legte einen Zettel vor seinen Chef.

»Verdammte Scheiße!« Der Hauptkommissar starrte ihn an. »Sind Sie sicher?«

»Absolut.«

Wagemann betrachtete noch einmal den Zettel. Das Telefon lief auf den Namen Gassner, Walther. Wagemann wusste nur zu gut: Er war der Chef der deutschen Niederlassung von Roffe und Söhne, einem der Industriegiganten der Stadt.

Über die Folgen brauchten sich die beiden nicht zu unterhalten. Nur ein Hornochse hätte da nicht geschaltet. Eine falsche Bewegung, und sie beide stünden auf der Straße, konnten sich beim Arbeitsamt melden. Wagemann überlegte einen Moment. »Also gut. Gehen Sie der Sache nach. Ich will, dass Sie selbst hinfahren. Und, verdammt noch mal, behandeln Sie die Angelegenheit wie rohe Eier. Haben Sie verstanden?«

»Jawohl, Herr Kommissar.«

Die Villa Gassner lag in Wannsee, dem exklusiven Stadtteil im Südwesten Berlins. Wachtmeister Lange nahm den Weg über den Hohenzollerndamm bis zum Roseneck. Dann bog er in die Clay-Allee ein, fuhr am USIA-Gebäude vorbei. Nachdem er das amerikanische Hauptquartier passiert hatte, bog er rechts ab in die Potsdamer Chaussee, eine der längsten Ausfallstraßen Berlins, die nach Wannsee führt. Hier gab es vorwiegend Privatvillen, alle schön und eindrucksvoll gelegen, mit herrlichen Gärten, manche mit einem eigenen Bootssteg. Sonntags ging Wachtmeister Lange manchmal mit seiner Frau dort spazieren, um die schönen Grünanlagen zu betrachten und die Segelboote auf dem Wannsee.

Er fand die gesuchte Adresse und bog in die lange Auffahrt zum Anwesen der Gassners ein. Es verkörperte mehr als nur Reichtum. Es war die zu Stein gewordene Macht. Die Dynastie Roffe war mächtig genug, um Regierungen zu stürzen. Wagemann hatte völlig recht gehabt: Er musste mit äußerster Vorsicht zu Werk gehen.

Wachtmeister Lange hielt vor dem Portal der dreistöckigen Villa. Er stieg aus und klingelte. Ihn umfing die lastende Stille eines einsamen Hauses. Aber er wusste, das konnte nicht sein. Er klingelte ein zweites Mal. Kein Echo, gleichbleibende Stille. Gerade überlegte er, ob er um das Haus herum nach hinten gehen sollte, als die Tür plötzlich geöffnet wurde. Auf der Schwelle stand eine Frau. Sie war mittleren Alters, keinesfalls hübsch und trug einen zerknitterten Morgenrock. Wachtmeister Lange meinte, es mit der Haushälterin zu tun zu haben. Er zeigte seinen Dienstausweis. »Ich möchte bitte Frau Gassner sprechen. Sagen Sie ihr, Wachtmeister Lange wäre hier.«

»Ich bin Frau Gassner«, erklärte die Frau.

Wachtmeister Lange versuchte, sein Erstaunen zu verbergen. Die Frau entsprach so gar nicht seinen Vorstellungen von der Herrin dieses Hauses.

»Ich - wir haben bei der Kripo vor kurzem einen Notruf erhalten«, begann er umständlich.

Sie sah ihn regungslos an. Wachtmeister Lange hatte das unbestimmte Gefühl, die Situation zu verpatzen; wie und warum, wusste er selbst nicht. Auf jeden Fall war ihm, als entginge ihm etwas Wichtiges.

»Haben Sie angerufen, Frau Gassner?«

»Ja«, kam die Antwort. »Es war ein Irrtum.«

Ihre Stimme klang tot, fast körperlos. Ihn überlief ein merkwürdiges Kribbeln. Nur zu genau erinnerte er sich an die schrille, fast hysterische Stimme der Anruferin vor kaum mehr als einer halben Stunde.

»Leider muss ich dennoch einen Bericht machen. Darf ich also fragen, um welche Art von Irrtum es sich handelte?«

Ihr Zögern war kaum wahrnehmbar. »Da war - ich glaubte, von meinen Juwelen hätte ein Stück gefehlt. Ich habe es gefunden.«

»Verstehe.« Wachtmeister Lange zögerte. Er hätte gern das Haus betreten, um herauszufinden, was er offensichtlich nicht herausfinden sollte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu sagen: »Vielen Dank, Frau Gassner. Tut mir leid, Sie gestört zu haben.«

Frustriert stand er da und sah zu, wie die Haustür sich schloss. Direkt vor seiner Nase. Langsam stieg er ins Auto und fuhr davon.

Hinter der Tür drehte sich Anna um.

Walther nickte. Seine Stimme war ganz leise. »Das hast du sehr gut gemacht, Anna. Und jetzt gehen wir wieder nach oben.«

Er wandte sich zur Treppe, und Anna brachte eine große Schere aus den Falten des Morgenmantels zum Vorschein. Sie stieß ihm das spitze Instrument tief in den Rücken.

28. Kapitel

Rom

Sonntag, 4. November, 12 Uhr mittags

Welch ein Tag, dachte Ivo Palazzi. Genau der Tag, an dem man einen Ausflug zur Villa d’Este machen musste, mit Simonetta und den drei Töchtern. Als Ivo Arm in Arm mit seiner Frau durch die Tivoli-Gärten schlenderte und den Mädchen nachsah, die vor ihnen her von Brunnen zu Brunnen hüpften, streifte ihn der Gedanke, ob Pirro Ligorio, der den Park für die Familie d’Este angelegt hatte, sich wohl je hatte träumen lassen, dass er eines Tages Millionen von Touristen damit Freude bereiten würde. Die Villa d’Este lag ein kurzes Stück nordöstlich von Rom, an die Sabiner Hügel geschmiegt. Ivo war schon oft dort gewesen, und jedes Mal hatte es ihm besonderes Vergnügen bereitet, auf dem höchsten Plateau zu stehen und auf die sprühenden Springbrunnen hinabzublicken, alle derart raffiniert angelegt, dass keiner dem anderen glich.

In früheren Zeiten hatte Ivo seine drei Söhne und Donatella hierhergeführt. Wie wohl sie sich alle gefühlt hatten! Der Gedanke an sie stimmte Ivo ganz traurig. Seit jenem grausigen Nachmittag hatte er Donatella weder gesehen noch mit ihr gesprochen. Nur zu gut erinnerte er sich an die schrecklichen blutroten Kratzwunden, die sie ihm beigebracht hatte. Aber er wusste, welches Meer von Reue sie umfing, konnte die Sehnsucht ermessen, die sie nach ihm empfand. Immerhin, es schadete ihr nichts, wenn sie eine Weile leiden musste, schließlich hatte auch er gelitten. Er konnte sich ihre Stimme vorstellen, hörte mit dem inneren Ohr sie sagen: »Kommt, Jungens.