Max hatte nicht die geringste Ahnung vom Polizeidienst, ihm fehlte jegliches Wissen in Kriminologie, Gerichtspraktiken, Ballistik, Kriminalpsychologie, all jenen Disziplinen, in denen sich die anderen Beamten perfekt auskannten. Dennoch löste er immer wieder Fälle, bei denen andere verzweifelten. Chefinspektor Schmied kam zu dem Schluss, dass Max Hornung der Glückspilz des Jahrhunderts sein musste.
In Wahrheit hatte es mit Glück nicht das geringste zu tun. Max Hornung löste Kriminalfälle auf genau dieselbe Art, wie er als Wirtschaftsprüfer die hunderterlei raffinierten Machenschaften aufgedeckt hatte, mit denen Banken oder die Regierung betrogen werden sollten. Er hatte einfach ein eingleisiges Gehirn, und ein ziemlich engmaschiges dazu. Alles, was er brauchte, war ein loses Ende oder ein winziges Bruchstück, das zum Rest der Struktur nicht passen wollte, und wenn er das hatte, fing er an, das Knäuel abzuwickeln, bis irgendwann auch das genialste und narrensicherste Ganovenstück Aufklärung fand.
Max’ photographisches Gedächtnis trieb seine Kollegen fast zum Wahnsinn. Er konnte auf der Stelle alles hervorzaubern, was er irgendwann einmal gehört, gelesen oder gesehen hatte.
Ein anderer Minuspunkt für ihn, wenn es überhaupt noch weiterer bedurfte, waren seine Spesenabrechnungen. Wenn er den Rechenstift zur Hand nahm, stockte der ganzen Kriminalabteilung der Atem. Als er seine erste Aufstellung eingereicht hatte, rief ihn der Oberleutnant in sein Büro. Mit väterlicher Miene sagte er: »Da ist Ihnen offensichtlich ein Fehler unterlaufen, Hornung.«
Der zwinkerte ungläubig mit den Augen. »Ein Fehler, mir? In meiner Abrechnung?« Es war, als wollte man dem amtierenden Schachweltmeister vorwerfen, er habe die Königin aus Leichtsinn geopfert.
»Ja. Genaugenommen sogar mehrere.« Der Oberleutnant zeigte auf den Spesenzettel. »Hier, die Fahrt quer durch die Stadt. Achtzig Rappen. Rückfahrt: ebenfalls achtzig Rappen.« Er sah Max forschend an. »Jeder weiß, dass die Taxikosten mindestens vierunddreißig Franken betragen. Und zwar nur für eine Fahrt.«
»Jawohl. Deshalb habe ich den Bus genommen.«
Der Oberleutnant starrte ihn an. »Den Bus?«
Keiner der Beamten brauchte im Dienst Bus zu fahren. So was war in der ganzen Abteilung noch nie vorgekommen. Der Oberleutnant druckste herum. »Na, aber - das brauchen Sie doch nicht. Ich meine, natürlich haben wir alle hier was gegen Verschwendung, Hornung. Trotzdem vergüten wir angemessene Spesen. Und noch was. Für diesen Fall hier waren Sie drei Tage unterwegs. Wieso haben Sie Ihre Verpflegungskosten nicht abgerechnet?«
»Weil ich keine hatte, Herr Oberleutnant. Ich frühstücke morgens zu Hause und nehme mir ein Lunchpaket mit. Die Abendessen habe ich aufgeführt.«
Das hatte er. Drei Abendmahlzeiten, Gesamtsumme sechzehn Franken. Max musste in der Armenküche der Heilsarmee gespeist haben.
Der Oberleutnant hatte Mühe, gelassen zu bleiben. »Hornung, diese Abteilung existiert schon seit hundert Jahren. Und es wird sie auch noch weitere hundert Jahre geben, wenn Sie längst nicht mehr da sind. Bestimmte Traditionen müssen nun mal eingehalten werden.« Er schob Max den Spesenzettel hin. »Schließlich müssen Sie auch an Ihre Kollegen denken, verstehen Sie? Und jetzt nehmen Sie den Wisch wieder mit, und korrigieren Sie ihn. Dann legen Sie die Abrechnung abermals vor.«
»Jawohl, Herr Oberleutnant. Es - es tut mir leid, wenn ich mich nicht ganz korrekt verhalten habe.«
Der Chef entließ ihn mit großzügiger Geste. »Ist schon recht, Sie sind ja neu hier.«
Eine halbe Stunde später legte Max Hornung die revidierte Spesenabrechnung vor. Die Ausgaben betrugen genau drei Prozent mehr.
An diesem Novembertag also hielt Chefinspektor Schmied Hornungs Bericht in der Hand; der Verfasser stand vor ihm. Er trug einen hellblauen Anzug, braune Schuhe und weiße Socken. Allen guten Vorsätzen und Yoga-Übungen zum Trotz hörte Schmied sich brüllen. »Sie hatten Dienst, als die Meldung einging. Es war Ihre Aufgabe, die Untersuchung des Unglücksfalls einzuleiten. Und wann sind Sie erstmals am Unfallort aufgekreuzt? Vierzehn Stunden später! In der Zeit hätte die ganze verdammte Polizei aus Neuseeland herfliegen können. Und wieder nach Hause.«
»O nein, Chefinspektor. Die Flugzeit von Neuseeland nach Zürich beträgt -«
»Halten Sie gefälligst den Mund!«
Chefinspektor Schmied fuhr sich durch das dichte, täglich grauer werdende Haar. Was konnte man diesem Mann sagen? Alles prallte an ihm ab, Beleidigungen, Argumente. Ein kompletter Idiot, der noch dazu das Glück gepachtet zu haben schien.
Er schnauzte: »Wenn ich in meiner Abteilung was nicht dulde, Hornung, dann Inkompetenz. Als die anderen Beamten zum Dienst kamen und den Bericht sahen, sind sie sofort zur Unfallstelle geeilt. Sie haben die Ambulanz gerufen, die Leiche ins Schauhaus bringen lassen, haben sie identifiziert und -« Er merkte, dass er schon wieder die Fassung verlor, und zwang sich zur Ruhe. »Kurz und gut, Hornung, Ihre Kollegen haben alles das getan, was ein guter Polizist tun sollte. Derweil saßen Sie in Ihrem Büro und weckten die halbe Schweizer Bürgerelite aus dem Schlaf, mitten in der Nacht!«
»Ich dachte -«
»Bloß nicht! Ich hab’ mich den ganzen verdammten Morgen lang bei Gott und der Welt entschuldigen müssen, für Ihre -«
»Ich musste herausbekommen, ob -«
»Verschwinden Sie, Hornung, auf der Stelle!«
»Jawohl, Chefinspektor. Haben Sie was dagegen, wenn ich der Bestattung beiwohne? Sie ist für heute morgen angesetzt.«
»In Gottes Namen. Gehen Sie.«
»Danke, Chefinspektor. Ich möchte -«
»Gehen Sie, Sie sollen gehen!«
Es dauerte eine volle halbe Stunde, bis Chefinspektor Schmied seinen normalen Atemrhythmus wiedergefunden hatte.
32. Kapitel
In der Friedhofshalle von Sihlfeld herrschte drangvolle Enge. Es war ein altmodisches, mit Ornamenten versehenes Bauwerk aus Stein und Marmor, enthielt Aufbahr-Räume und ein Krematorium. Der Trauergottesdienst fand in der weitläufigen Kapelle statt. Zwei Dutzend leitende Angestellte und Mitarbeiter von Roffe und Söhne nahmen die vorderen Sitzreihen ein. Weiter hinten saßen Freunde, Mitglieder der Kirchengemeinde und die Presse. Inspektor Hornung hatte sich die letzte Reihe ausgesucht. Er sann über den Tod nach. Für ihn eine ganz und gar unlogische Angelegenheit. Der Mensch erreichte den Gipfel seines Lebens, und dann, wenn er am meisten zu geben hatte und es sich für ihn erst voll zu leben lohnte, dann starb er. Welche Verschwendung.
Der Sarg war aus Mahagoni und über und über mit Blumen bedeckt. Ebensolche Verschwendung, dachte Inspektor Hornung. Der Sarg war bereits versiegelt. Max konnte sich denken, warum. Der Geistliche sprach mit dem Tonfall des Jüngsten Gerichts. »... Tod in der Mitte des Lebens, geboren in Sünde, Asche zu Asche.« Hornung hörte kaum zu. Er beobachtete die Anwesenden.
»Der Herr gibt, und der Herr nimmt.«
Die Trauergemeinde erhob sich und strebte dem Ausgang zu. Die Feier war vorüber.
Hornung stand an der Tür. Als eine Frau und ein Mann sich näherten, trat er vor. »Miss Elizabeth Roffe? Ich hätte gern ein paar Worte mit Ihnen gewechselt.«
Gegenüber der Friedhofskapelle lag eine Konditorei. An einem Ecktisch nahm der Inspektor mit Elizabeth Roffe und Rhys Williams Platz. Durch das Fenster beobachteten sie, wie der Sarg in einen grauen Leichenwagen geschoben wurde. Elizabeth wandte den Blick ab.
»Was soll das alles eigentlich?« wollte Rhys wissen. »Miss Roffe hat vor der Polizei bereits ihre Aussage gemacht.«
Hornung sah ihn an. »Mr. Williams, nicht wahr? Es gibt nur noch einige Details, die ich überprüfen möchte.«