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Im Krankenhaus wachte sie auf.

An ihrem Bett saß Walther und hielt ihre Hand. »Hast du mir einen Schrecken eingejagt, ich kann’s dir gar nicht beschreiben!«

In plötzlicher Panik fiel ihr ein: das Baby! Ich kann das Baby nicht fühlen! Sie betastete sich. Ihr Bauch war flach wie ein Brett. »Wo ist mein Baby?«

Und Walther zog sie an sich, liebkoste sie.

Der Arzt sagte: »Sie wurden von Zwillingen entbunden, Frau Gassner.«

Anna blickte zu Walther auf. Seine Augen schwammen in Tränen. »Ein Junge und ein Mädchen, mein Liebes.«

In jenem Augenblick hätte Anna vor Glück sterben können. Sie fühlte das unwiderstehliche Verlangen, die Babys in ihre Arme zu schließen. Sie musste sie sehen, fühlen, an sich drücken.

»Darüber reden wir, wenn Sie sich ein wenig erholt haben«, bestimmte der Arzt. »Erst mal müssen Sie zu Kräften kommen.«

Alle versicherten Anna, dass es ihr von Tag zu Tag besserginge, aber die Angst in ihr wuchs. Mit ihr geschah irgend etwas, das sie nicht begriff. Walther kam sie besuchen, nahm ihre Hand und sagte: »Bis morgen, mein Liebes.« Sie sah ihn erstaunt an. »Aber du bist doch gerade erst...« Und dann fiel ihr Blick auf die Uhr. Drei Stunden waren vergangen oder vier. Das wiederholte sich immer öfter.

Jedesmal hatte sie nicht die leiseste Ahnung, wo die Zeit geblieben war.

Einer dunklen Erinnerung zufolge hatte man ihr des Nachts die Kinder ans Bett gebracht, und sie war eingeschlafen. Aber so ganz genau wusste sie das alles nicht mehr, und zu fragen wagte sie nicht. So wichtig war es auch nicht. Sobald Walther sie nach Hause brachte, würde sie die beiden ganz für sich allein haben.

Endlich kam der große, wunderbare Tag. In einem Rollstuhl konnte Anna ihrem Krankenhauszimmer entkommen. Laufen durfte sie nicht, obwohl sie schwor, stark genug dafür zu sein. In Wirklichkeit fühlte sie sich noch recht schwach, aber sie war ungeheuer aufgeregt. Nichts zählte, nur die Aussicht, zu ihren Babys zu kommen. Walther trug sie in das Haus und wollte sie nach oben ins Schlafzimmer bringen.

»Nein, nein!« rief sie. »Ich will ins Kinderzimmer!«

»Du musst dich erst mal ausruhen, Liebling. Du bist noch nicht kräftig genug, um -«

Seine letzten Worte hörte Anna gar nicht mehr. Sie war seinen Armen entwichen und lief zum Kinderzimmer.

Die Jalousien waren geschlossen, der Raum lag im Dunkeln, und Anna brauchte einen Moment, um ihre Augen daran zu gewöhnen. Sie war derart erregt, dass ihr schwindlig wurde. Sie hatte Angst, in Ohnmacht zu fallen.

Walther war ihr ins Zimmer gefolgt. Er sprach auf sie ein, versuchte, ihr etwas zu erklären, aber was immer das war, für Anna hatte es keinerlei Bedeutung.

Denn da stand sie vor ihren Kindern. Beide schliefen in ihren Wiegen, Anna beugte sich ganz vorsichtig über sie, als hätte sie Angst, sie zu stören. Schönere Kinder hatte sie nie gesehen. Jetzt schon war es deutlich: Der Junge hatte Walthers ebenmäßige Züge geerbt und sein dichtes blondes Haar. Das Mädchen war wie eine feine, zerbrechliche Puppe, mit weichem Goldhaar und einem kleinen dreiecksförmigen Gesicht.

»Wie schön sie sind. Ich bin so glücklich!«

»Komm jetzt, Anna«, flüsterte Walther. Er legte die Arme um sie und presste sie an sich. Verlangen stieg in ihm auf, und sie fühlte, wie es sich in ihr regte. So lange war es her, seit sie miteinander geschlafen hatten! Walther hatte recht. Später würde ihr noch viel Zeit für die Kinder bleiben.

Den Jungen nannte sie Peter, das Mädchen Brigitta. Sie waren wie zwei Fabelwesen. Anna verbrachte Stunden um Stunden im Kinderzimmer, spielte mit ihnen, sprach auf sie ein. Was machte es, dass die beiden sie noch nicht verstehen konnten, ihre Liebe spürten sie allemal. Manchmal drehte sich Anna mitten im Spiel um, und Walther, vom Büro zurück, stand in der Tür, und Anna stellte fest, dass ihr der ganze Tag irgendwie durch die Finger geglitten war.

»Komm zu uns«, sagte sie dann. »Mach mit, wir spielen ein wenig.«

»Hast du denn das Essen fertig?« wollte Walther wissen, und plötzlich hatte sie Schuldgefühle. Sie schwor sich, künftig Walther mehr Aufmerksamkeit zu schenken und weniger bei den Kindern zu sein, doch am nächsten Tag geschah das gleiche. Wie ein unwiderstehlicher Magnet zogen die Zwillinge sie an. Anna liebte Walther immer noch aus vollem Herzen, und sie versuchte, ihr schlechtes Gewissen mit dem Gedanken zu dämpfen, dass die Kinder auch ein Teil ihres Mannes seien. Jeden Abend, sobald Walther schlief, schlüpfte Anna aus dem Bett und schlich ins Kinderzimmer. Dort saß sie und hielt die Augen unverwandt auf die Kinder gerichtet, bis die Dämmerung durch die Fenster drang. Dann eilte sie leise zurück ins Schlafzimmer und kroch ins Bett, bevor Walther aufwachte.

Einmal, mitten in der Nacht, kam Walther in das Kinderzimmer und überraschte sie. »Was um Himmels willen machst du hier?« fragte er entsetzt.

»Nichts, Liebling. Ich habe nur -«

»Geh sofort wieder ins Bett!«

In diesem Ton hatte er noch nie mit ihr gesprochen.

Beim Frühstück sagte er: »Wir sollten Ferien machen. Eine andere Umgebung würde uns guttun.«

»Aber Walther, die Kinder sind doch zum Reisen noch viel zu klein.«

»Ich rede von uns beiden.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann sie nicht allein lassen.«

Da nahm er ihre Hand. »Ich möchte, dass du dich von den Kindern losmachst.«

»Losmachen? Von den Kindern?« Sie blickte ihn entsetzt an.

Er sah ihr in die Augen. »Anna, weißt du denn nicht mehr, wie wunderbar alles zwischen uns war, ehe du schwanger wurdest? Was hatten wir für eine herrliche Zeit! Es war so schön, beisammen zu sein, nur wir beide, ohne dass uns irgend jemand störte.«

In diesem Augenblick verstand Anna. Walther war eifersüchtig auf die Kinder.

Schnell verstrichen die Wochen und Monate. Walther kam jetzt nie mehr in die Nähe der Kinder. Zu ihrem Geburtstag kaufte Anna ihnen prächtige Geschenke, während Walther es immer so einrichtete, dass er gerade verreist war. Anna wusste, sie konnte sich nicht ewig etwas vormachen - die Wahrheit hieß schlicht: Walther hatte nicht das geringste Interesse an den Kindern. Vielleicht war das ihre Schuld, dachte sie, weil sie sich zuviel mit ihnen abgab. Sie war von den Kindern ganz und gar eingenommen: besessen, das war der Ausdruck, den Walther dafür gebrauchte. Er hatte sie gebeten, deswegen einen Arzt aufzusuchen, und sie war hingegangen, nur ihm zu Gefallen. Aber der Arzt war natürlich ein Dummkopf. Von dem Moment an, wo er angefangen hatte, mit ihr zu reden, hatte Anna sich vor ihm verschlossen, ließ sie ihre Gefühle und Gedanken wandern, bis sie ihn sagen hörte: »Das wär’s für heute, Frau Gassner. Nächste Woche sehe ich Sie wieder?«

»Ja, natürlich.«

Sie war nie wieder hingegangen.

Nach Annas Überzeugung lagen die Schwierigkeiten ebensosehr bei Walther wie bei ihr. Wenn es ihre Schuld war, dass sie die Kinder zu sehr liebte, dann machte Walther sich schuldig, indem er ihnen zuwenig Liebe schenkte.

Mit der Zeit lernte sie, die Kinder in Walthers Gegenwart nicht mehr zu erwähnen, aber sie konnte es immer kaum erwarten, bis er das Haus verließ. Sofort lief sie ins Kinderzimmer, um bei ihren Babys zu sein. Natürlich waren sie längst keine Babys mehr. Schon hatten sie den dritten Geburtstag hinter sich, und Anna konnte sich vorstellen, wie sie als Erwachsene aussehen würden. Peter war groß für sein Alter, von starkem, athletischem Körperbau wie sein Vater. Anna hielt ihn auf dem Schoß und sagte im Singsang: »Ach Peter, mein Peter, was wirst du den armen Mädchen antun? Sei nett zu ihnen, mein geliebter Sohn. Wer wird dir widerstehen können?«

Dann lächelte Peter sie ganz schüchtern an und langte mit seinen kleinen Armen nach ihr.

Und Anna wandte sich Brigitta zu. Von Tag zu Tag wurde sie schöner, glich weder Anna noch Walther, hatte dichtes goldenes Haar und eine Haut, so fein wie Porzellan. Während Peter das Temperament seines Vaters geerbt hatte und Anna ihm ab und zu schon einen leichten Klaps geben musste, zeigte Brigitta das Gemüt eines Engels. Wenn Walther nicht zu Hause war, spielte Anna den Kindern Schallplatten vor oder las mit ihnen. Ihr Lieblingsbuch war Grimms Märchen. Immer wieder musste Anna ihnen von den Ungeheuern, Gnomen und Hexen vorlesen. Abends, wenn sie die Kinder zu Bett brachte, sang sie ihnen ein Gutenachtlied: