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»Schlaf, Kindlein, schlaf, der Vater hütet die Schaf...«

Wie oft hatte Anna gebetet, dass die Zeit Walthers Herz erweichen und er sich ändern würde. In der Tat änderte er sich, aber zu seinem Nachteil. Er hasste die Kinder. Zu Anfang hatte Anna sich eingeredet, es käme daher, dass Walther ihre ganze Liebe für sich selbst beanspruchte, sie mit niemandem zu teilen gewillt war. Erst langsam ging ihr auf, dass Walthers Einstellung nicht der Liebe zu ihr entsprang. Sie hing im Gegenteil mit dem Hass zusammen, den er gegen sie, Anna, hegte. Ihr Vater hatte also recht gehabt. Walther hatte sie ihres Geldes wegen geheiratet, und die Kinder empfand er als Bedrohung seiner Pläne. Deshalb wollte er sie loswerden. Immer häufiger sprach er Anna auf Mittel und Wege an, die Aktien zu verkaufen. »Sam hat kein Recht, uns daran zu hindern! Stell dir doch mal vor, wir könnten das ganze Geld nehmen und irgendwo anders leben. Wir beide ganz allein.«

Sie starrte ihn an. »Und die Kinder?«

Seine Augen hatten einen fiebrigen Glanz. »Nein, hör mir zu. Um unser beider willen: Wir müssen uns davon freimachen, es muss sein!«

Das war der Augenblick, als ihr klar wurde: Walther war wahnsinnig! Von nun an lebte sie in Angst und Schrecken. Walther hatte alle Dienstboten entlassen, und bis auf eine Putzfrau, die einmal in der Woche kam, waren Anna und die Kinder mit ihm allein im Haus, ihm auf Gnade und Verderb ausgeliefert. Er brauchte Hilfe. Vielleicht, dachte Anna, war es für eine Heilung noch nicht zu spät. Im fünfzehnten Jahrhundert wurden die Irren auf Hausboote verbannt, Narrenschiffe geheißen, aber heutzutage gab es schließlich die Hilfsmittel der modernen Medizin, und Anna war sicher, es musste Möglichkeiten geben, Walther zu helfen.

Und jetzt, an diesem Septembertag, kauerte sie auf dem Fußboden im Schlafzimmer, wo Walther sie eingeschlossen hatte. Sie wartete auf seine Rückkehr. Und sie wusste, was sie zu tun hatte. Um seinetwillen, aber auch für sich selbst und die Kinder. Mühsam und schwankend stand sie auf und schleppte sich zum Telefon. Nur einen Moment zögerte sie, dann nahm sie den Hörer ab und wählte 110, den Notruf.

Es meldete sich eine fremde Stimme. »Hallo? Hier Polizeinotruf. Kann ich Ihnen helfen?«

»Ja, bitte!« Sie war ihrer Stimme kaum mächtig. »Ich -«

Eine Hand entriss ihr den Hörer und warf ihn auf die Gabel.

Anna wich zurück. Sie wimmerte. »Bitte, bitte, tu mir nichts.«

Walther kam ganz dicht an sie heran. Seine Augen brannten, die Stimme war so leise, dass sie die Worte kaum verstand. »Liebling, wieso sollte ich dir denn etwas antun? Ich liebe dich, das weißt du doch!« Bei seiner Berührung zuckte sie zurück. »Es geht ja nur darum«, fuhr er fort, »dass wir die Polizei nicht brauchen, nicht wahr?« Sie zitterte am ganzen Körper, konnte vor Angst nichts sagen. »Die Kinder, Anna, sie sind die Wurzel allen Übels. Deshalb müssen wir sie ein für allemal loswerden. Ich -«

Unten klingelte es an der Haustür. Walther fuhr zusammen, zögerte. Es klingelte nochmals.

»Bleib hier«, befahl er. »Ich bin gleich zurück.«

Starr vor Schrecken sah ihm Anna nach, als er das Schlafzimmer verließ. Er schlug die Tür hinter sich zu, und sie konnte das Klicken des Schlüssels im Schloss hören.

Ich bin gleich zurück, klang es ihr in den Ohren.

Walther Gassner eilte die Treppe hinunter, ging zur Haustür und öffnete. Auf der Schwelle stand ein Mann in grauer Botenuniform, in der Hand einen versiegelten braunen Umschlag.

»Sonderzustellung für Herrn und Frau Walther Gassner.« »Ja«, sagte Walther. »Geben Sie her.«

Er schloss die Tür, sah auf den Umschlag in seiner Hand, riss ihn auf. Langsam tasteten seine Augen die Nachricht ab.

MUSS SIE VON DER TRAURIGEN TATSACHE IN KENNTNIS SETZEN DASS SAM ROFFE BEI BERGUNFALL UMS LEBEN KAM STOP BITTE AM FREITAG MITTAG ZWOELF UHR IN ZUERICH EINFINDEN STOP SONDERSITZUNG DES DIREKTORIUMS ANBERAUMT STOP

Unterschrieben war das Telegramm mit »Rhys Williams«.

3. Kapitel

Rom

Montag, 7. September, 18 Uhr

Ivo Palazzi stand im Schlafzimmer, genau in der Mitte. Blut strömte ihm über das Gesicht. »Mamma mia! Mi hai rovinato!«

»Ruiniert? Damit hab’ ich noch nicht mal angefangen, du mieser figlio di puttanal« kreischte Donatella ihn an.

Beide waren nackt im großen Schlafzimmer ihrer Wohnung in der Via Montemignaio. Donatellas Körper war die Inkarnation der Sinnlichkeit, das Aufregendste, das Ivo Palazzi je gesehen hatte. Sogar jetzt, da ihm aus den Kratzwunden, die sie ihm beigebracht hatte, der rote Lebenssaft rann, spürte er das gewohnte Regen in den Lenden. D/o, war das eine Frau! Die Aura ihrer keuschen Dekadenz raubte ihm die Sinne: das Gesicht einer Leopardin, hohe Backenknochen mit schräg geschnittenen Augen, volle, reife Lippen, Lippen, die an ihm knabberten, lutschten, saugten - aber daran durfte er jetzt nicht denken. Vom Boden hob er ein weißes Tuch auf, um das Blut zu stillen, und bemerkte zu spät, dass es sein Hemd war. Donatella stand mitten auf dem riesigen Doppelbett, kreischte und kreischte. »Hoffentlich blutest du dich zu Tode, dort auf der Stelle! Wenn ich mit dir fertig bin, du lumpiger Hurenbock, dann kann nicht mal mehr ein Kätzchen auf dich scheißen, so wenig bleibt von dir übrig!«

Zum hundertsten Male fragte Ivo Palazzi sich verzweifelt, wie er sich in diese aussichtslose Lage hatte manövrieren lassen können. Hatte er sich nicht immer für den glücklichsten Mann der Welt gehalten, unter lebhafter Zustimmung aller seiner Freunde? Freunde? Alle Menschen gaben ihm recht! Denn Ivo hatte keinen Feind auf der Welt. Seine Junggesellenzeit: Da war er pfeifend durch Rom stolziert, ohne Sorgen und Trübsal, ein moderner Don Giovanni, den halb Italien beneidete, zumindest der männliche Teil. Seine ganze Lebensphilosophie drückte sich in dem alten Sprichwort aus: Farsz onore con una donna - seine Ehre bei einer Frau suchen, und diese Maxime hatte ihn aufs äußerste beschäftigt gehalten. Ivo war ein geborener Romantiker. Er verliebte sich ständig, und jedes Mal half ihm die neue Liebe, die alte zu vergessen. Ivo betete Frauen an, für ihn waren alle schön, von der puttana, die entlang der Via Appia ihrem uralten Gewerbe nachging, bis zu den modischen Geschöpfen auf der Via Condotti. Die einzigen Frauen, aus denen sich Ivo nichts machte, waren Amerikanerinnen. Die waren für seinen Geschmack viel zu unabhängig. Außerdem: Was konnte man von einer Nation erwarten, deren Sprache so unromantisch war, dass man dort Giuseppe Verdi mit Joe Green übersetzte?

Stets brachte Ivo es fertig, ein Dutzend Mädchen in Bereitschaft zu haben, und zwar jeweils in verschiedenen Stufen der Erwartung oder Erfüllung. Insgesamt gab es fünf Stufen. Stufe eins galt den Frauen, denen Ivo eben erst begegnet war. Die bekamen ihren täglichen Telefonanruf, Blumen, kleine Bücher mit Gedichten, erotische Poesie. Den Mädchen in Stufe zwei schickte er kleine Geschenke, Schals von Gucci oder Porzellandosen mit Perugina-Pralinen. Stufe drei hieß Juwelen und Kleider, ferner Abendessen im El Toula oder der Taverna Flavia. Wer in Stufe vier aufgerückt war, durfte Ivos Bett teilen und sich seiner rühmenswerten Fertigkeiten als feuriger Liebhaber erfreuen. Bettabenteuer mit Ivo waren nicht einfach Ereignisse, sondern ausgeklügelte Zeremonien. Seine kleine, geschmackvoll eingerichtete Wohnung in der Via Margutta wurde mit Blumen geschmückt, Nelken oder Mohn, dazu gab es erlesene Musik, Opern, Konzerte oder Rock ‘n’ Roll, je nach Geschmack der glücklichen Auserwählten. Ivo war ein hervorragender Koch, und eine seiner Spezialitäten hieß sinnigerweise pollo alla cacciatora, Hühnchen auf Jägerart. Und nach dem Souper eine Flasche eisgekühlten Champagner, im Bett zu trinken... O ja, Ivo liebte Stufe vier ganz besonders.