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50. Kapitel

Zürich

Donnerstag, 4. Dezember

Der Anruf kam genau um zwölf Uhr mittags. Die Zentrale des Züricher Kriminalkommissariats stellte zum Büro von Chefinspektor Schmied durch. Nachdem er aufgelegt hatte, ging er auf die Suche nach Inspektor Hornung.

»Alles vorbei«, klärte er Max auf. »Der Fall Roffe ist gelöst. Sie haben den Mörder gefunden. Fahren Sie sofort zum Flughafen, dann bekommen Sie die Maschine gerade noch.«

Max zwinkerte. »Wohin fliege ich denn?«

»Nach Berlin.«

Chefinspektor Schmied rief Elizabeth Williams an. »Ich habe gute Neuigkeiten für Sie«, eröffnete er ihr. »Sie brauchen keine Leibwache mehr. Man hat den Mörder gefasst.«

Elizabeth merkte, wie sich ihre Hand um den Telefonhörer krallte. Endlich bekam der gespenstische Feind ein Gesicht. »Wer ist es?« fragte sie atemlos.

»Walther Gassner.«

Sie rasten über die Stadtautobahn, Richtung Wannsee. Max saß neben Kommissar Wagemann im Fond; vorn zwei Beamte in Zivil. Sie hatten Max am Flughafen in Empfang genommen, und auf der Fahrt informierte Kommissar Wagemann ihn. »Das Haus ist umstellt, aber wir müssen äußerst behutsam vorgehen. Er hält seine Frau als Geisel.«

»Wie sind Sie auf ihn gekommen?«

»Durch Sie, natürlich. Deshalb dachte ich ja, Sie wären bestimmt gern dabei.«

Max verstand die Welt nicht mehr. »Durch mich?«

»Sie haben mir doch von dem Psychiater berichtet, bei dem er war.

Dann kam mir eine Eingebung, und ich ließ Gassners Beschreibung bei den Nervenärzten zirkulieren. Prompt stellte sich heraus, dass er ein halbes Dutzend konsultiert hatte. Immer kam er als Hilfesuchender, benutzte jedes Mal einen anderen Namen und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Er wusste, wie krank er war. Vor zwei Monaten hatte uns seine Frau über Notruf alarmiert, aber als ein Beamter vorsprach, schickte sie ihn wieder fort.« Sie bogen von der Stadtautobahn ab, waren nur noch wenige Minuten von der Villa entfernt. »Heute morgen rief uns eine Putzfrau an, eine gewisse Frau Mendler. Sie gab an, sie hätte letzten Montag im Haus der Gassners gearbeitet und durch die verriegelte Schlafzimmertür mit Frau Gassner gesprochen. Und Frau Gassner hätte ihr gesagt, ihr Mann sei der Mörder ihrer beiden Kinder und wolle jetzt auch sie umbringen.«

Max zwinkerte. »Am Montag war das, sagten Sie? Und die Frau hat sich erst heute früh gemeldet?«

»Frau Mendler hat ein langes Vorstrafenregister. Sie hat Angst vor der Polizei. Gestern abend erzählte sie ihrem Freund von der Sache, und heute morgen entschloss sie sich endlich, bei uns anzurufen.«

Unterdessen waren sie angekommen. Wenige Meter von der Gassnerschen Villa entfernt hielt der Fahrer hinter einem unauffälligen Polizeiauto. Ein Beamter stieg aus und kam auf Wagemann und Max zu. »Er ist noch im Haus, Herr Kommissar. Meine Männer sind rund um das Anwesen postiert.«

»Wissen Sie, ob die Frau noch lebt?«

Der Beamte zögerte. »Nein, nicht mit Bestimmtheit. Alle Jalousien sind heruntergelassen.«

»Na schön. Dann wollen wir nicht länger fackeln. Vor allem muss es schnell und ohne Lärm vonstatten gehen. Alle Mann an ihre Plätze -fünf Minuten.«

Der Beamte hastete davon. Kommissar Wagemann holte ein kleines Walkie-talkie hervor und erteilte die Befehle. Er sprach schnell und nahezu ohne Pause. Max hörte nicht hin. Er dachte angestrengt nach. Ein Detail aus dem Bericht, den Wagemann ihm vor fünf Minuten geliefert hatte, gab keinen Sinn, passte nicht in das Muster. Aber jetzt war nicht die Zeit, ihn danach zu fragen. Von allen Seiten bewegten sich Männer auf das Haus zu, benutzten Bäume und Sträucher als Deckung. Wagemann drehte sich zu ihm um. »Kommen Sie mit, Hornung?«

Max schien es, als dringe eine ganze Armee in den Garten ein. Einige Beamte trugen Gewehre mit Zielfernrohren und kugelsichere Westen,

andere kurzläufige Waffen für Tränengaspatronen. Die Operation lief mathematisch präzise ab. Auf ein Signal von Wagemann wurde mit Tränengas auf die Fenster unten und im Obergeschoß gefeuert, gleichzeitig schlugen Beamte, mit Gasmasken geschützt, die Vorder-und Hintertür ein. Ihnen folgten Polizisten mit Schusswaffen.

Als Max und Wagemann durch die Haustür eintraten, lag beißender Qualm über der Halle, der sich indessen durch die offene Tür und die zerborstenen Fenster schnell verzog. Zwei Beamte brachten Walther Gassner in Handschellen herbei. Er trug einen Morgenmantel über dem Pyjama und war unrasiert. Sein Gesicht wirkte hohlwangig, die Augenlider waren geschwollen.

Max starrte ihn an. Zum ersten Mal sah er ihn leibhaftig vor sich, und er kam ihm seltsam vor. Der andere, dessen Leben ihm die Computer durch das Datensichtgerät offengelegt hatten, war für ihn der eigentliche Walther Gassner gewesen. Welcher der beiden Männer war nun der Schatten und welcher der Mensch?

Kommissar Wagemann sagte: »Herr Gassner, Sie sind festgenommen. Wo ist Ihre Frau?«

Walther Gassners Stimme klang heiser. »Sie ist nicht hier. Sie ist weg. Ich -«

Von oben kam Lärm. Eine Tür wurde eingeschlagen. Sekunden später rief ein Beamter: »Ich habe sie gefunden. Sie war in ihrem Zimmer eingeschlossen.«

Dann tauchte ein Polizist oben an der Treppe auf. Er stützte die zitternde Anna Gassner. Sie machte einen völlig verwahrlosten Eindruck. Das Haar hing ihr strähnig ins aufgedunsene Gesicht. Sie schluchzte hemmungslos.

»Gott sei Dank!« stieß sie hervor. »Gott sei Dank, dass Sie gekommen sind!«

Vorsichtig führte der Beamte sie nach unten zu der Gruppe, die sich in der riesigen Empfangshalle versammelt hatte. Als Anna Gassner aufsah, fiel ihr Blick auf ihren Mann. Sie begann zu schreien, schrill, wie in Todesangst.

»Ist ja gut, Frau Gassner«, suchte Wagemann sie zu beruhigen. »Er kann Ihnen nichts mehr tun.«

»Meine Kinder!« kreischte sie. »Er hat meine Kinder umgebracht!«

Max beobachtete Walther Gassner. Der starrte seine Frau an, Hoffnungslosigkeit und tiefes Elend im Blick. Er sah aus wie eine leblose, zerbrochene Marionette.

»Anna«, flüsterte er rauh. »Ach, Anna.«

Wagemann klärte ihn über seine Rechte auf. »Sie können die Aussage verweigern oder einen Anwalt verständigen. In Ihrem Interesse hoffe ich, dass Sie sich kooperativ zeigen.«

Aber Walther hörte überhaupt nicht zu. »Anna«, klagte er. »Warum hast du die Polizei gerufen? Warum nur? Waren wir denn nicht glücklich miteinander?«

»Die Kinder«, schrie Anna Gassner. »Die Kinder sind tot!«

Wagemann sah Gassner an. »Stimmt das?«

Walther nickte. Er wirkte alt und müde. Seine Augen zeigten: Er hatte aufgegeben. »Ja... sie sind tot.«

»Mörder! Mörder!« kreischte seine Frau.

»Wir müssen darauf bestehen, dass Sie uns die Leichen zeigen«, sagte Wagemann. »Sind Sie bereit?«

Walther Gassner aber konnte nicht sprechen. Er weinte; Tränen rannen ihm die Wangen hinab.

»Wo sind sie?« forschte Wagemann.

Die Antwort kam von Max. »Die Kinder liegen auf dem Waldfriedhof begraben.«

Alle drehten sich zu ihm um. »Sie sind vor fünf Jahren bei der Geburt gestorben«, erläuterte der Inspektor.

»Mörder! Mörder!« schrie Anna Gassner ihrem Mann ins Gesicht.

Und die Männer sahen ihre aufgerissenen Augen, aus denen der Wahnsinn loderte.

51. Kapitel

Zürich

Donnerstag, 4. Dezember, 20 Uhr

Eine kalte Winternacht war angebrochen und hatte die kurze Abenddämmerung vom Himmel gewischt. Leise fiel Schnee, kaum mehr als einzelne Flocken, die der Wind durch die Stadt trieb. Das Verwaltungsgebäude von Roffe und Söhne ragte in die Dunkelheit, die Fenster der leeren Büros hoben sich wie blasse gelbe Monde ab.