Ich saß allein auf meinem Klappstuhl und dachte darüber nach, ob Joe wirklich Joe hieß und wohin er dich wohl gebracht haben und was er dort von dir wollen könnte und warum er die Kontrollettis, die sein Plan vorsah, als» Begleitgroupies «verspottete und wie schwachsinnig die Wortkreation» arschklar «war, erst recht, wenn sie aus dem schmallippigen Breitmaul eines pseudoautoritären Laubfroschs kam, der sich auch noch Joe nennen ließ, ausgerechnet Joe.
Dann erhob ich mich, ging jedoch nicht rauchen, sondern in dem Zimmer umher, das offensichtlich gerade erst eingerichtet und bezogen worden war. Es gab keine Grünpflanze, in den Regalen kein Buch, nicht einmal eine Henkeltasse oder ein Stofftierchen, kein Bild, außer dem vom Comandante, nicht auf der Resopalplatte des Schreibtisches und nicht an den frisch geweißten Rauhfasertapeten, nur einen riesigen, dezent für das populärste Produkt eines Westberliner Pharmakonzerns werbenden Monatskalender, dessen aktuelles Blatt jemand, vermutlich Joe, in kleiner, akkurater Handschrift mit roten, blauen, grünen Zahlen, Buchstaben, Punkten und Linien gefüllt hatte. Ich studierte die Zeichen eine Weile, wußte mir das pedantische Chaos aber nicht zu deuten.
Als ihr zurückkamt, hattest du rote Flecken im bleichen, feucht glänzenden Gesicht und machtest dennoch einen irgendwie erleichterten Eindruck. Auch Joes Miene wirkte nicht mehr ganz so gewollt grimmig, sein Blick stumpfer, womöglich gar ein wenig enttäuscht oder einfach nur müde. Uns beide Hände hinstreckend, dir seine rechte, mir seine linke, sprach Joe:»Seht zu, daß ihr es schafft bis Freitag um neunzehn Uhr. Ich möchte die gesamte Gruppe hier haben. Ist ja nicht auszuschließen, daß tatsächlich mal Berufstätige darunter sind, deswegen der späte Termin. Die Initiative, Soja, liegt bei dir. Auf Harrys bucklige Bekanntschaft werden wir wohl kaum zurückgreifen können. Und sag deinen Leuten, daß es pro Stunde, die sie Harry widmen, eine Mark Aufwandsentschädigung gibt, plus Fahrgeld und einer Pauschale für Essen, Waschmittel, Briefmarken. Das dürfte ihnen die Entscheidung ein wenig erleichtern.«
Joe ließ mich los, aber dich noch nicht — und ulkig verdreht, wie ein Komiker, der Kleiner-Mann-guckt-durchs-Teleskop spielt, stand er vor dir, versuchte, obwohl du den Kopf gesenkt hieltest, in deine Augen zu blicken.»Du kommst morgen um elf wieder zur Urinkontrolle und an jedem der folgenden Tage auch, bis ich es neu festlege. Wenn das nicht klappt, ist der Rest der Show gestorben, und ich rufe deinen Bewährungshelfer an.«
Nach diesen Worten dirigierte uns Joe mit rechtwinklig erhobenen Armen und gespreizten Fingern zur Tür; in deren Rahmen und dem Widerschein des grellen, flackernden Neonlichtes ähnelte seine Silhouette der eines gestellten Verbrechers — oder der eines Verkehrspolizisten auf einer Berliner Straßenkreuzung bei Einbruch der Dunkelheit.
Während wir die Eisenacher Straße hinab- und der U-Bahn-Station entgegenliefen, legtest du mir den Arm um die Schulter, die Hand in den Ausschnitt. Dein warmer Atem an meinem Hals bewirkte, daß sich mir die Nackenhaare sträubten.»Und, Soja«, hauchtest du mir ins Ohr,»gehen wir noch einen Kakao trinken?«
Ich schüttelte den Kopf, aber du zogst mich zum nächstbesten Lokal; und als wir über dessen Schwelle getreten waren, wolltest du plötzlich gar keinen Kakao mehr, sondern» einen doppelten Baileys mit ganz vielen Eiswürfeln«. Für mich bestelltest du, ohne daß du mich gefragt hättest, ein halben Liter Weizenbier.
In der Nacht zum Dienstag konnte ich nicht schlafen, und nicht nur, weil du keine Anstalten machtest, dies mit mir zu tun. Kaum lagst du auf deiner Matratze, da warst du auch schon nicht mehr ansprechbar. Einige Zeit bemühte ich mich, dir durch die ausnahmsweise ganz geschlossenen, nur ein wenig flatternden Lider in die Augen zu schauen, dich so womöglich zurückzuholen aus dem Traum, der dir die Stirn furchte. Doch dann verließ ich die Matratzenkante, suchte — jedes Geräusch vermeidend — mein Telefonheft, einen Block Papier und einen Bleistift. Um besser nachdenken zu können, stellte ich noch eine Flasche Wein und ein Glas zu dem Aschenbecher auf dem Küchentisch.
Wen wollte ich zu uns ins Boot bitten? Ich kannte hier noch nicht viele Menschen. Und warum sollten unter denen welche sein, die begriffen, daß ich sie brauchte, weil ich dich brauchte, einen Junkie, wenngleich der offenbar sauber war, jedenfalls die heutige Urinprobe bestanden hatte? Die Sache würde Zeit kosten, das Pünktlichkeitsgebot abschreckend wirken auf diese freiheitsliebenden Geister, Tagediebe wie wir.
Ich ging mein Telefonheft durch, übertrug etwa fünfzehn Namen und Nummern auf das obere Blatt des Schreibblocks und sagte mir, daß acht davon genügen würden. Aber was, wenn jene, die ich zu überreden hoffte, dann nicht durchhielten, wenn sie, vielleicht weil ihnen auf einmal in den Sinn kam, daß sie verreisen müßten, das Handtuch warfen, lange bevor die zwei Monate verstrichen waren? Mir fiel ein, daß ich Joe danach fragen könnte — oder lieber doch nicht? — , und glücklicherweise auch wieder das Geld, von dem er gesprochen hatte. Schließlich war keiner der rund zwanzig in Frage kommenden, also diesseits der Mauer lebenden Erwachsenen, deren Koordinaten ich immerhin besaß, so wohlhabend, daß er ein bißchen zusätzliche Kohle nicht gerne mitnehmen würde. Und zwei von den acht, die wir laut Joe mindestens sein sollten, hatte ich ja schon beisammen: mich und sehr wahrscheinlich Christoph. — Christoph, der sich, wie ich nur zu gut wußte, nicht für jede Frau, ansonsten aber leicht begeistern ließ, würde sich freuen, daß er aus dem Rennen war, weil ich nun dich gefunden hatte, und mir den kleinen Freundschaftsdienst nicht verweigern. Und notfalls konnte ich ja versuchen, ihn zu erpressen, indem ich ihm die Partnerschaft am Blumenstand aufkündigte, was meine, also unsere, Probleme jedoch nur verschärfen und vergrößern würde. Denn wenn du nicht völlig klamm gewesen wärst, hättest du dir nicht bereits am Morgen unseres zweiten gemeinsamen Tages wortlos einen Zehner geliehen, und ich hätte vorhin weder deinen Baileys noch mein Bier allein aus meiner Tasche bezahlt. Darüber, wie es wirtschaftlich weitergehen soll, werde ich mit dir reden müssen, gleich nachher, wenn du wieder wach bist, so behutsam wie möglich, so deutlich wie nötig, dachte, dachte, dachte ich und starrte, fast blind vor Müdigkeit, in mein schon wieder leeres Glas.
Es dämmerte, als ich den Kopf vom Küchentisch hob, die drei ausgetrunkenen Weinflaschen in die Mülltüte steckte, mir das Gesicht wusch, die Butter aus dem Kühlschrank und das Brot aus der Tüte holte. Ich kippte ein Glas Leitungswasser, kochte Kaffee, den ich in eine Thermoskanne umfüllte, schmierte mir eine Stulle, die ich mit zwei Bissen verschlang, zog mich an, verstaute meine geschrumpften Finanzen im BH und schaute noch einmal zu dir hinein.
Die Morgensonne fiel schräg durch die schmutzigen Fensterscheiben auf deine feucht glänzende Stirn. Ich hob die Bettdecke an, unter der du, wie ich gerührt bemerkte, wieder meinen Bademantel trugst, strich dir übers Haar, die Augenbrauen, die Lippen; du spürtest nichts. Ich wußte, wenn ich mich jetzt hinlegte, würde ich bis mittags schlafen, doch ich mußte ja in wenigen Stunden die Kandidaten für unsere Gruppe anrufen. Was, außer ein bißchen draußen herumlaufen, hätte ich bis dahin tun sollen?
Ich war schon beinahe unten, als eine diffuse Vorsicht, die ich nicht Argwohn nennen möchte, mich veranlaßte, wieder umzukehren und die beiden Hundertmarkscheine, die ich für Notfälle hinter der Duschkabine deponiert hatte, auch noch mitzunehmen.