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War es in jener Nacht, in der ich dir von Wilhelm erzählen wollte, oder in einer anderen? Aber einmal habe ich dich gefragt, warum du keine einzige Tätowierung hättest, obwohl du so lange im Knast warst, und ob derlei in Westknästen vielleicht nicht üblich sei. Du erklärtest, daß sich bei euch nur die Kriminellen» gegenseitig bunt machen «würden. Doch du hättest dich, gerade weil sie dich für» Beschaffungsdelikte «und suchtbedingte Überfälle» kassiert «hätten, immer als Linken betrachtet und nicht als» Ganoven«. Es sei dir nie darum gegangen, dich zu bereichern, nur darum, dich und deinesgleichen zu» versorgen«. Und lediglich jene Drogen zu» illegalisieren«, an denen der Staat nicht mitverdienen könne oder wolle, heiße,»Linke zu kriminalisieren«, sie mit» ganz gewöhnlichen Verbrechern «auf eine Stufe zu stellen, und das sei nun wirklich verbrecherisch, denn vom Staat dürfe» keine Gewalt ausgehen«, jedenfalls nicht von einem, der sich demokratisch nenne. Die Politischen, also die Anarchos, die RAFler und die übrigen Terroristen, würden auch lange» einsitzen «und einander» trotzdem ganz bewußt «keine Bildchen stechen, außer, vielleicht, dem von der Friedenstaube. Aber so ein Friedenstaubentattoo à la Picasso, das schon Ähnlichkeit mit der — ironischerweise weniger für ihre unter den Tauben einzigartige Aggressivität als für ihr schneeweißes Gefieder bekannten — Ringeltaube haben müßte, wäre ja wohl kaum zu sehen, es sei denn auf der Haut eines schwarzen Roten, und einer von der Sorte sei dir bislang nicht begegnet, weder drinnen noch draußen.

Wilhelm war dann doch bald fertig und ich froh, daß er es war. Er schlief ein, was sonst. Ich blieb zwei, drei Stunden neben ihm an der kalten Wand liegen, hörte ihn schnarchen, hatte Durst, fand keine Ruhe. Als das Gemurmel in der Gaststube erstarb, nur noch Gläser gegeneinanderschepperten, weil der Wirt, wie ich richtig vermutete, beim Spülen war, erhob ich mich vom Lager, suchte meine Klamotten zusammen, zog mich an, öffnete die Zimmertür und schloß sie wieder hinter mir.

«Morjen«, sagte der Wirt.

«Wie spät isses«, fragte ich.

Darauf er:»Drei durch. Bald geht die erste S-Bahn.«

Es regnete, heftiger als am Tag zuvor. Ein Blick auf den Fahrplan machte mir klar, daß ich bis zehn Minuten vor vier zu warten hatte. Fröstelnd und hundemüde stand ich am glücklicherweise überdachten Bahnsteig, wußte nicht, ob ich mich hinsetzen oder es bleibenlassen sollte. Einerseits wollte ich die Beine spreizen und von mir strecken, damit ich das Feuchte, Klebrige dazwischen nicht mehr so spürte, andererseits den faden Spermageruch, der, falls er nicht ohnehin in der Luft lag, aus meinem Schoß kam, nicht noch deutlicher wahrnehmen. Und zudem fürchtete ich, daß ich, wenn ich mich erst einmal auf einer der Bänke niedergelassen hätte, sogleich in Schlaf sinken und nicht nur die erste S-Bahn verpassen würde.

Obwohl meine Zunge pelzig war und auch schmeckte wie eine tote Maus, verspürte ich das Bedürfnis zu rauchen. Doch in meiner Umhängetasche fanden sich weder Zigaretten noch Feuerzeug, nur mein Portemonnaie, ein Pilzmesser, drei zusammengefaltete Papiertüten und eine fast leere Schachtel Streichhölzer. Also mußte ich meine angebrochene Schachtel f6 in der Schankstube oder dem Zimmer dahinter vergessen haben. Da ich ja genug Zeit hatte, wäre ich sicher noch einmal zurückgegangen, wenn nicht auch mein Portemonnaie bis auf ein paar Groschen leer gewesen wäre (Wo war mein bißchen Geld geblieben? Hatte ich in einem trunkenen Anfall von Stolz etwa doch zwei, drei Runden bezahlt?), nicht zum wahrscheinlich noch immer schnarchenden Wilhelm, sondern um an dem Automaten vor der Kneipe ein neues Päckchen zu ziehen.

Ich würde also eine ganze Weile nicht rauchen können; dies zu begreifen, steigerte mein Verlangen so sehr, daß ich hellwach wurde und mein sonstiger Zustand mir gleichgültig. Ich tigerte den Bahnsteig entlang, suchte jeden Quadratmeter und die beiden steinernen Müllkübel nach einer schönen Kippe ab, einer womöglich fast unversehrten Zigarette, die gerade mal angezündet, aber, als die Bahn kam, weggeworfen worden und erloschen war. Ich bückte mich nach zwei, drei jämmerlichen Stummeln, die jedoch so eklig rochen, daß ich sie wieder fallen ließ, und beschloß, lieber für ein paar Stunden auf Entzug zu gehen, da entdeckte ich zwischen den Schienen ein Softpäckchen der Marke Club, das offenbar jemandem entglitten und seitlich hochkant gelandet war; es wirkte noch ziemlich prall, und aus dem Loch neben der Banderole lugten etliche Zigaretten hervor.

Ich blickte hinauf zum grauen Himmel, und wenn ich gewußt hätte, wie man das macht, hätte ich gebetet. Meine Begeisterung und meine Gier waren so groß, daß ich an den Abstand zwischen Bahnsteigkante und Gleis keinen Gedanken verschwendete, sondern den Sprung wagte.

Da meine Beute am inneren Schienenrand gelegen hatte, war nur die Hülle etwas feucht, die Zigaretten waren es nicht; gut, ein bißchen klamm vielleicht, aber ansonsten okay. Mit Mühe unterdrückte ich den Wunsch, ein Streichholz anzureißen und mir schon dort unten, in der, wie ich nun fand, doch erstaunlichen Tiefe, Feuer zu geben. Gleich, dachte ich, gleich nehme ich den ersten Zug. Die von dem Wort ausgelöste Assoziation brachte mir wohl etwas von meiner Vernunft zurück, denn ich steckte das Päckchen ein, umkrallte die Bahnsteigkante — und hing daran wie ein Sack. Meine Arme waren völlig kraftlos und Klimmzüge nie eine meiner raren sportlichen Stärken gewesen oder geworden. So sehr ich mich abmühte, ich schaffte es nicht, mich wenigstens so weit hochzuhieven, daß ich die Ellenbogen auf den Betonvorsprung stemmen und versuchen konnte, den Rest meines Körpers eventuell auch noch auszuhebeln. Die Vergeblichkeit meiner Anstrengungen schwächte mich nur weiter, und diese gnadenlose Schwäche paarte sich mit der Angst vor der Zeit, dem Moment, in dem ich ihn würde herannahen hören, den ersten S-Bahn-Zug des Tages.

Das, was ich dann tatsächlich hörte, was schnell näher kam und dumpf und laut dröhnte, war vielfüßiges Getrappel; wie sich herausstellte, das von Menschen, genauer blauuniformierten Männern. Als das Getrappel abbrach, ich hochschaute, erblickte ich Köpfe; Köpfe, die Schirmmützen trugen, und unter den Mützenschirmen grimmige Gesichter. Zwei Pranken ergriffen meine Arme, sehr unsanft, zogen mich hinauf — mit einer Leichtigkeit, die mich verblüffte, aber nicht freute, weil ich ja ahnte, mit wem ich es gleich zu tun haben und was nun kommen würde. — Der Zug kam, kaum daß ich oben war; einer der fünf uniformierten Männer (zwei von ihnen waren, falls ich deren Schulterstücke und Mützenbänder richtig deutete, Transportpolizisten) drehte mir den rechten Arm auf den Rücken, blitzschnell und so grob, daß ein stechender Schmerz an meinem Schultergelenk riß, und schubste mich vor sich her und die Treppe hinunter und durch die finstere, nach Ammoniak stinkende Unterführung und dann in einen an deren Ende liegenden, von einer flackernden Neonröhre beleuchteten Dienstraum.

Der Beamte, der mich hinaufgezogen und abgeführt hatte, ein etwa dreißigjähriger, großer, untersetzter Kerl, ließ meinen Arm los, stieß mir gegen das Brustbein, erzwang so, daß ich mein Haupt zurückwarf, ihn ansah.»Ja, bist du denn bescheuert«, brüllte er.

Die übrigen vier standen um uns herum, mir und einander sehr nahe, in der Enge des Kabuffs. Auch sie glotzten wütend, was ich nur bemerkte, weil ich den Blick des Brüllaffen nicht noch einmal erwidern wollte, also an ihm vorbeischaute. Dann sah ich gar nichts mehr; in meinem Schädel sammelte sich Wasser, das höher stieg und mir schließlich aus Augen- und Nasenlöchern floß, als sei ich ein am aufgedrehten Hahn hängender, aber völlig verhedderter Gartenschlauch, der, vom Druck strapaziert, die ersten vier Lecks bekommen hatte. Ich schluchzte, schniefte, keuchte, hörte nichts außer mir, bis ich mit kaum verständlicher, mir selbst fremder Piepsstimme fragte, ob ich rauchen dürfe. Eine Hand griff nach meinem Kinn. Der, dem die Hand gehörte, oder ein anderer sagte:»Kopf hoch. «Mir wurde übers Haar gestrichen, ein kariertes Stofftaschentuch gereicht, ein Stuhl in die Kniekehlen und eine brennende Zigarette in den Mund geschoben. Jemand seufzte:»Ach, Mädel, du bist doch noch so jung«; und ich heulte weiter, und die Zigarette schmeckte wie fritierter Gummi.