Weil ihr noch irgendwo Holz holen wolltet, verließest du meine Wohnung an jenem Tage in Franks Gesellschaft und früher als ich. So fuhr ich ohne dich in die Eisenacher Straße. Im Treppenhaus, am vorderen Ende des langen Flurs, der zu den Räumen der Triade führte, begegnete ich vier Frauen, die, wie Joe mir fünf Minuten später auf meine Nachfrage hin beschied, gerade bei der» Angehörigengruppe «gewesen waren. Eine der Frauen verstellte mir den Weg und musterte mich derart feindselig, daß ich nicht umhinkam, sie zu fragen, welche Laus ihr denn über die Leber gelaufen sei.
«Wir«, motzte sie,»sind die Mütter von denen, die hier landen. Und sein Kind kann man sich nicht aussuchen. Aber was ist mit Tussis wie dir? Bist du pervers, oder findest du keinen besseren Stecher?«
Ist das nicht ein bißchen einfach gedacht, erwiderte ich, lapidarer als beabsichtigt, und drückte mich, meinen Hintern die Wand entlangschiebend, an den Frauen vorbei.
Wieder saßen wir wie seine braven Schüler auf unseren Klappstühlen, und wieder ging Joe, ehe er zu sprechen begann, ein paar die Spannung steigernde Minuten hin und her, musterte uns ausgiebig, einen nach dem anderen, und fragte dann, betont unbeteiligt, als erkundige er sich nach dem Wetter in Wladiwostok, wie es denn so ginge» mit unserm Harry«.
Ein paar Minuten, die sich für mein Gefühl zur Ewigkeit dehnten, herrschte Schweigen. Alle außer mir lächelten matt und schauten irgendwohin, nur nicht zu Joe.
Schließlich räusperte sich Clara, an der Joes Blick klebengeblieben war.»Was soll’s«, sagte sie ein wenig schleppend und so, als seiest du nicht im Raum,»der Harry hatte die letzten Jahre halt kaum Kontakt zu gebildeten, politisch und künstlerisch engagierten Menschen, darum fehlt ihm oft die eigene Meinung. Immerhin weiß er, was ihn nicht interessiert, und kann einigermaßen zuhören. Gedichte verstehen lernen, das braucht seine Zeit und Harry eine wie mich, dann klappt das auch irgendwann, denn dumm ist er nicht. Mehr Austausch wäre schon schön, aber ich bringe ihm gerne was bei. Nur wollen muß er. Die zwei Monate, die uns noch bleiben, sind nicht viel, gerade genug für den Anfang, der ja Gott sei Dank bald hinter uns liegt …«
Wahrscheinlich hätte Clara weiter solches Stroh gedroschen und jeder von uns anderen weitergeschwiegen, wenn nicht ausgerechnet sie die erste gewesen wäre, die auf Joes Animation reagierte.
«Ach Quatsch mit Gedichten und Soße«, schnitt Frank ihr das Wort ab,»wir kommen klar. Bei mir hat Harry schon Bilderrahmen gebaut und so gut wie alleine ne ganze Ausstellung verpackt. Einziges Minus: Er fragt nicht, lieber macht er’s falsch.«
«Manches auch nicht«, mischte Hanna sich ein,»Stullen schmieren, Tütensuppe kochen, Wäsche zusammenlegen erledigt Harry alles prima, ohne Diskussion.«
«Wir hören viel Musik, das ist easy, so wunderbar entspannend. Zumal Harrys Leben gerade ziemlich stressig verläuft«, sagte nun Marlene, nach der ich sprechen wollte, um dich noch etwas mehr zu loben und so, wie ich es für therapeutisch clever hielt; etwa deine soziale Kompetenz, deine kleinen Geschenke, deine ruhige, besonnene Art …
Doch Joe kam mir zuvor:»Haltet ihr Harry für ehrlich? Spricht er gelegentlich über sich? Sagt er, wie es ihm geht, was mit ihm los ist? Und wer von euch hat sich dafür schon mal interessiert und das auch zum Ausdruck gebracht? Wißt ihr eigentlich, meine lieben Zwerginnen und Zwerge samt Ersatzzwerg, wer seit Wochen in euren Bettchen schläft, von euren Tellerchen ißt, aus euren Becherchen trinkt? Schneewittchen heißt er nicht, obwohl auch Gift im Spiel ist.«
Joe war vor deinem Stuhl zum Stehen gekommen, trat nah an dich heran, stieß dir mit dem Handballen nicht eben sanft vor die Brust.»Los, Harry«, fauchte er leise, aber scharf,»heb deinen Arsch hoch und sag’s ihnen. Da du offenbar noch immer nicht den Mut hattest, sag es ihnen jetzt, sofort.«
Doch du bliebst sitzen, senktest den Kopf und wurdest, was nur ich deutlich sehen konnte, weil dein Stuhl der letzte in der Reihe war — und meiner der rechte daneben — und ich mich so weit zu dir hinüberbeugte, daß mein Haar deinen Schoß berührte, feuerrot. Binnen Sekunden hattest du Schweißperlen auf der Stirn; und wenn es keine Sinnestäuschung gewesen war, tropfte mir, ehe ich es wegzog, mindestens eine davon ins Gesicht.
Du schwiegst. Wir hielten den Atem an. Joe tänzelte vor dir auf der Stelle wie ein Fußballer, der gleich den ersten Elfmeter schießen muß, oder wie ein Kommissar, der endlich das längst fällige Geständnis hören will, und bedrängte dich:»Nun red schon, wir haben nicht ewig Zeit.«
Du schwiegst eisern weiter, krümmtest dich nur noch mehr zusammen.
«Na gut«, sprach Joe, als du kleiner nicht mehr werden konntest,»du schaffst es also nicht, reinen Tisch zu machen. Du willst deine Freunde, ohne die du seit Wochen wieder auf Dope und im Knast wärst, nicht damit konfrontieren, daß du HIV-positiv bist?!«
Für das, Harry, was Joes Worte in mir auslösten, hatte ich keine, weder in jenen Tagen, die diesem einen folgten, noch später. Und selbst heute werde ich meine damaligen Empfindungen kaum in Sprache fassen können. Es war, als hätte man mir einen sofort und mächtig, aber nicht vollständig betäubend wirkenden Cocktail aus Angst, Enttäuschung, Wut und Selbstmitleid injiziert. Es war wie ein elektrischer Schicksalsschlag, eine Explosion im Schädel, die mein Bewußtsein zu zerstören drohte und gleichzeitig schärfte. In meinen Ohren brauste und dröhnte es, derart laut, daß ich den Kommentar, zu dem dich Joe nun doch provoziert hatte, vernahm wie hochtönendes, den Gewitterdonner eher skandierendes als durchdringendes, vielleicht nur vom Wind hervorgerufenes Jaulen; es war, als hörte ich nicht die Wörter, die du sprachst, oder Joe oder sonstwer, nicht die Laute, die von links und rechts, vorn und hinten, oben und unten in meinen Kopf gelangten, sondern meine eigenen, soeben aus dem Tiefschlaf gerissenen und deshalb wie Säuglinge wimmernden Gedanken.
«Na und …, weiß es selbst erst seit ein paar Wochen …, habe außerdem noch Hepatitis B und C …, manches verdrängt man eben …, Joe, du alte Petze …, da wird ja sogar ein Schaf böse …«, das sind in etwa die Satzfetzen, die ich behalten habe von dem, was du sagtest, gerade so — oder so ähnlich.
«Denken zu können wäre ganz okay, ohne fühlen zu müssen. Sterben zu müssen, bei vollem Verstand, ist barbarisch, eine Zumutung. Mit Hero geht es sicher schneller, aber leichter eben auch. Wenn ich drauf bin, gibt es genug Trubel, fiesen und angenehmen, bin ich gezwungen, meinem Körper zu verschaffen, was er braucht, damit es meinem Kopf bessergeht, sind sie Komplizen, die der Hals nicht trennt, sondern verbindet. Was, außer ab und an ein paar Happen, sollte ich einwerfen, wenn mein Organismus nicht nur dazu da wäre, daß in meinen Grübelzellen bißchen Rambazamba ist oder wenigstens Ruhe herrscht?
Und da behauptet Joe, es sei eine Lebensaufgabe, dieses Leben aufzugeben. Den Müll soll der Idiot mal anderen Idioten verkaufen, mir sicher nicht.«
Erinnerst du dich daran, wie Joe, während du noch am Stammeln warst, auf seine Armbanduhr linste und uns sadistisch grinsend ermahnte, einen klaren Kopf zu behalten, dir deinen aber» ruhig mal ordentlich zu waschen«? Hast du die Panik in meinen Augen und in denen der anderen je vergessen können? Hörst du auch bis heute — schallend wie eine Backpfeife — die Tür ins Schloß fallen, vor die Joe uns nach genau einer Stunde setzte?» Macht’s gut zusammen, bis nächstes Mal. Und haltet die Ohren steif.«
Hanna raffte ihre drei vollen Einkaufstüten und stürzte, wie vor ihr schon Christoph und Thomas, davon, ohne sich noch einmal umzusehen nach dir, mir, Joe oder ihrem Mann, der, eine brennende Zigarette zwischen den Lippen, komisch langsam wie eine nicht stramm genug aufgezogene Blechente den Flur hinunterwatschelte und so benommen zu sein schien, daß er die vielen, beidseitig an den Wänden klebenden Rauchverbotsschilder gar nicht wahrnahm. Clara, der ich widerwillig oder weil ich selber Halt brauchte, für einen Moment den Arm um die Schulter legte, weinte lautlos in eins ihrer umhäkelten Taschentücher, über die ich mich ein paar Tage zuvor noch lustig gemacht hatte. Marlene und Juli, die sich bisher eher aus dem Weg gegangen waren, hielten Händchen.