Schöne Männer wart ihr, alle beide, du blauäugig, bleich, aschblond, der neben dir oliv, mit braunem Kraushaar, Sonnenbrille, kleinem Silberohrring. Und dafür, daß die Sweatshirts, die sich über euren breiten Schultern spannten, wahrscheinlich aus dem Kleiderfundus der Arbeiterwohlfahrt stammten, hatte ich damals noch nicht den Blick.
Ich muß euch, obwohl ich nicht geschminkt war und mein kräftiger Leib in der Sorte Kleid steckte, die bezeichnenderweise Hänger heißt, ebenso aufgefallen sein wie ihr mir, denn ihr bliebt stehen, du zu meiner Linken, der andere zu meiner Rechten.
«Na, Mausepuppe, wohin geht’s?«sagtest du — so schleppend deutlich, daß ich einen Moment lang dachte, du hättest schon drei, vier Biere getrunken. Aber in deinem Atem, den ich riechen konnte, weil sich dein Gesicht, während du sprachst, meinem näherte, war nichts säuerlich Alkoholisches, dafür etwas, wovon ich Appetit auf Kakao bekam. Ich weiß nicht mehr, was ich dir zur Antwort gab, doch das Wort Mausepuppe verfehlte seine Wirkung nicht, zumal es mich darauf brachte, daß du, trotz deiner irritierend langsamen, um saubere Artikulation bemühten Ausdrucksweise, nur ein Berliner sein konntest, aber keiner, dem der Schnabel im Osten gewachsen war. Einem so jungen und zudem klischeegemäß gewitzten Lands- oder richtiger Stadtsmann war ich bis zu jenem Tag, an dem ich euch in die Arme lief, auf dieser Seite der Mauer noch nicht begegnet. Die wenigen Menschen, die ich während der Monate nach Marienfelde näher kennengelernt hatte, stammten — wie der Bayer mit der Badewanne — aus dem Süden Deutschlands und betrachteten die Selbständige politische Einheit als eine Art Zwischenlager, in dem man studieren und so den» Ruf zum Bund«,»zur Fahne«, wie wir» von drüben «sagten, ganz legal ignorieren konnte. Es hat eine Weile gedauert, bis ich begriff, daß sich diese anderen nicht wesentlich von mir» Exzoni «unterschieden, daß auch sie vor etwas geflohen waren, ja, daß all die hierher abgehauenen Nord-, Süd-, West- und Ostdeutschen samt den Türken, Italienern, Griechen, Chinesen, Franzosen, Amerikanern … etwa die Hälfte der Bevölkerung jenes Teils meiner Stadt stellten, in dem ich nicht geboren wurde.
Auf das Schmutztitelblatt des ersten Buches, das ich mir als Raubdruck vom ersten neuen Geld in einer Kneipe gekauft hatte, Anfang Dezember 1986, schrieb ich:
Seit ich, die Topographie des Ostteils im Gedächtnis, durch den Westteil Berlins laufe, weiß ich, diese Stadt ist tatsächlich eine; die auf beiden Seiten übriggebliebenen Häuser ähneln einander ebenso wie die nach dem Krieg hinzugekommenen. Berlin, Ost und West, erinnert mich an ein Verlegenheitsgeschenk, eine Schachtel Kaufhauskonfekt, die dann wochenlang unbeachtet herumsteht, weil ihr Inhalt nicht besonders schmackhaft (hier würden sie sagen» lecker«) ist. In den Mulden des Plastikreliefs hocken, graubeschlagen oder angeknabbert und freudlos zurückgelegt, rechts die nackten Pralinees und links die golden eingewickelten, die, aus der Folie geschält, den anderen gleichen — haargenau, könnte man sagen, wenn Pralinen Haare hätten.
Und auf einem Kalenderblatt vom vierzehnten März 1987, das als Lesezeichen in eben jenem Buch lag, hatte ich noch die folgenden zwei Sätze notiert:
Ich laufe umher, sehe Menschen und denke: der und der und die und die …, wie ich kamen sie irgendwann hier an, um gleich weiter- oder wieder abzureisen, spätestens mit dem letzten Zug. Aber alle Züge waren längst weg, und der letzte ist nie losgefahren; seither sind wir auf dem Bahnhof unterwegs, und der heißt Westberlin-Zoologischer Garten.
«Ich Harry, das Benno«, sagtest du, einen Knicks, keinen Diener andeutend. Und ich bin Soja, ergänzte ich — ziemlich unwillig, weil ich befürchtete, nun würde, wie beinahe jedesmal, wenn ich mich hier im Westen jemandem vorstellte, gleich wieder das große Kichern ausbrechen. — »Soja? Ach, und wie weiter? Bohne oder Soße?!«Nur einmal versuchte ich daraufhin zu erklären, daß nicht ich für meinen Vornamen verantwortlich sei, sondern meine Mutter, denn sie habe, auch und gerade» in den schweren Stunden «ihrer» ersten Niederkunft«, an ihr Idol denken müssen,»die von den deutschen Faschisten hingerichtete Partisanin Soja Kosmodemjanskaja«, die mir als» Leitstern den Lebensweg beleuchten «sollte — und noch größere Heiterkeit schlug mir entgegen.
Ihr aber lachtet nicht mehr als zuvor.»Und, Soja«, sagtest du,»was ist? Wollen wir einen Kakao trinken gehen?«
Der Blick, mit dem ich deinen erwiderte, muß dir gezeigt haben, wie ertappt ich mich fühlte. Woher wußtest du, welche Assoziation der Geruch deines Atems in mir ausgelöst hatte? Euer dreister Auftritt hatte mich ohnehin verunsichert, doch daß einer meine Gedanken las, das fand ich nun wirklich unheimlich, aber auch erregend, zumal du dieser eine warst. Ich flatterte mit den Armen, als könnte ich so die Erde verlassen oder euch wenigstens auf diese schüchterne Art den Vogel zeigen. Etwas zog mich hin zu dir, und gleichzeitig warnte mich etwas anderes: kleinliche Herzensträgheit, die allerdings auf Erfahrung basierte. Waren nicht, wie meine Oma einmal gesagt hatte, die meisten Abenteuer am Ende bloß teure Abende?! Außerdem erwartete mich Christophs Badewanne; ich fühlte mich ja gar nicht frisch genug für das vage Verlangen, das mich ergreifen und dir an den Hals werfen wollte. Oder kroch es durch den Bauchnabel in mich hinein — wie ein Gas, das sich hinter meinem Zwerchfell sammelte und ausdehnte und schon anfing, mir die Stimmung zu heben?
Nein, sagte ich, geht nicht. Werde erwartet.
«Okay«, meinte deine Gesellschaft, die bislang noch nicht das Wort gehabt hatte, offensichtlich erleichtert — und packte dich am Ärmel, so derb, daß der mürbe Trikotstoff tatsächlich eine Art Klagelaut von sich gab, denn du bliebst stehen, wolltest dich ebensowenig fortziehen lassen, wie ich dies wollte. Dennoch tat ich das, wozu meine miteinander im Streit liegenden Empfindungen mich nötigten; ich begann zu laufen, mit verdrehtem Kopf, ohne den Blick von dir zu wenden, und schrie dich an: Vielleicht später.
Da machtest du dich los, daß dein Ärmel riß wie Papier, ranntest mir nach, holtest mich ein.»Gut, Punkt drei Uhr, genau hier«, sagtest du scharf, fast drohend, und hörtest erst auf, mich zu verfolgen, als ich, weil ich schon eine Passantin angerempelt hatte, beschloß, jetzt doch lieber wieder nach vorne zu schauen.
III
Christoph, den mit der Badewanne, einer außergewöhnlich großen, hatte ich Ende Januar kennengelernt, im Lokal gewordenen Wunschtraum einer jeden Ostfrau, dem Malibu am Winterfeldplatz, dessen Boden knöchelhoch mit feinstem weißen Strandsand bestreut war. Zwischen den Tischen standen künstliche Palmen und echte, vom Zigarettenqualm und aus Mangel an Sonnenlicht halb verwelkte Ficus-benjamina-Bäumchen. Pinkfarbene, zu riesigen Flamingos geformte Neonröhren zogen sich über die schwarzen Wände hin, und von der Decke hingen Kugellampen, die ein diffuses blaues Licht gaben. Vor allem dieses Blaulichts wegen besuchte ich das Lokal ganz gerne, denn es bewirkte, daß die Hamburger, Spareribs und Folienkartoffeln, die man dort bestellen konnte, erbärmlich fad aussahen. Und so aß ich nie mehr davon, als unbedingt nötig war, damit mich die sehr kleinen Cocktails, die dafür aber nur die Hälfte des sonst Üblichen kosteten, nicht im Handumdrehen zulöteten.
Christoph hatte sich mir gegenüber niedergelassen, weil alle anderen Plätze besetzt waren. Etwa eine halbe Stunde lang verrenkte er sich fast den Hals, spähte an den ein- und ausströmenden Menschen vorbei zur Tür und leerte nebenher blitzartig die Karaffe Roséwein, die ihm gebracht worden war, ohne daß er sie hatte bestellen müssen. Als die erwartete Person, eine gewisse Adrienne, wie sich bald herausstellte, nicht erschien, drosch Christoph, dessen hübsches Gesicht vom hastigen Trinken und womöglich auch vor Zorn rot angelaufen war, eine Börse aus speckigem Leder neben sein Glas, erhob sich, wand sich suchend um die eigene Achse — wie eine Raupe, die das Ende des Grashalms erreicht hat und nicht mehr weiterweiß; doch die dürre, immer gehetzt dreinschauende Serviererin war nirgends zu sehen.