Und erstmals bemerkte ich, was für ausdruckslose Gesichter sie aufsetzen konnten; Gesichter, die, sonst völlig verschieden, einander plötzlich ähnelten — und denen der beiden ausgestopften Marder, die ich, neben anderen im Biologiekabinett meiner Ostberliner Schule vor sich hin gammelnden Präparaten, mal hatte entstauben und ausgerechnet mit Nerzöl abreiben müssen, zur Strafe für» Stören des Unterrichts«. Nur Ersatzmann Marc, der allemal öfter als Christoph und Thomas mit dir zusammengewesen war, gab sich gelassen, suchte sogar meine Nähe und Kontakt zu Frank, Clara, Juli, Marlene, die er regelrecht agitierte:»Kommt bitte mit ins Schwanensee. Wir sollten besprechen, wie es nun weitergeht. Und Harry wird uns sicher auch einiges zu erklären haben.«Harry. — Obwohl ich unausgesetzt an dich dachte, wenn man das, was in meinem Kopf vorging, überhaupt Denken nennen kann, vermißte ich dich erst auf dieses Stichwort hin. Auch Clara, Juli und Marlene blieben stehen, drehten sich um, hielten Ausschau nach dem, der schuld war, nach dir.
Du hocktest reglos vor Joes Tür und starrtest die diagonal gegenüberliegende Herrenklotür, hinter der du seit Wochen unter vier Augen Zylindergläschen fülltest, an, als hättest du sie noch nie gesehen. Nun komm schon, Mensch, schrie ich. Es klang derart schrill und böse, daß die anderen und ich selbst zusammenzuckten, du aber tatsächlich aufschrakst aus deiner Versteinerung.
Schließlich fanden wir uns an einem Tisch des Cafés wieder und vertieften die dort herrschende Edward-Hopper-Stimmung; sieben bleiche Vögel, die dem Schwanensee alle Ehre machten, obwohl keinem, nicht einmal Exausdruckstänzerin Clara, nach physischer Bewegung zumute und, von der Kellnerin abgesehen, auch kein Publikum da war.
Marc, der sich links neben dich setzte, aber so, daß zwischen euch ein Stuhl frei blieb, bestellte, ohne daß ihn jemand dazu ermächtigt oder davon abgehalten hätte, eine Runde Wodka und eine Flasche Wasser, legte dann, um deine Augen sehen zu können und womöglich sogar in sie hinein, seinen Kopf auf die Tischplatte und sagte:»Ist das ein Bullshit.«
Ich war völlig fertig, an denken nicht zu denken, und doch weiß ich noch, daß Marcs Worte seltsam klangen, zwiespältig, doppelzüngig, unbestimmt (nichts davon trifft es genau), wie nüchterne Feststellung und schüchterner Vorwurf in einem; ihnen nachlauschend, konzentrierte ich mich ganz auf dich, als könntest nur du mich ablenken von dir. Während ich mich fragte, ob du meine und Marcs Blicke überhaupt spürtest, ob du ihm antworten würdest, vielleicht ja wenigstens mit einer Handbewegung, merkte ich lange nicht, daß Clara, Juli und Marlene mich anstarrten. Erst als die Kellnerin, der die Brisanz der Situation offenbar nicht entgangen war, uns fast geräuschlos einen Krug Leitungswasser, zwei Sorten Gläser und eine halbvolle Flasche Moskovskaya hinstellte, wandte ich mich kurz von dir ab und Juli zu. Julis Blick war wie zuvor Marcs Worte: zwiespältig und unbestimmt — oder wie mein Blick auf dich; ich versuchte mich zu trösten, indem ich dein Problem für größer hielt als meins, und Juli schien meins für größer zu halten als ihres und gerade das sie ein wenig zu betäuben. — Es gibt Momente, da ist Mitleid nicht so schmerzhaft wie Selbstmitleid. Zumindest zerstreute Julis halb erschrockener, halb teilnahmsvoller Blick vorübergehend meinen Verdacht, daß ihr euch heimlich nähergekommen wärt.
In der Art, wie Clara und Marlene mich anschauten, lag eher Distanz. Sie schienen mich nicht für ungefährlicher zu halten als dich, und ihre mal auf mich gerichteten, mal flink wie die Kugeln einer russischen Rechenmaschine nach links oder rechts gleitenden Pupillen verrieten, daß sie im Geiste jene Szenen mit dir und mir durchgingen, die irgendwie infektiös gewesen sein könnten. Dachten sie an Begrüßungs- und Abschiedsküßchen, Kaffeetassen, Bettlaken, Handtücher, Raucherhusten …?
Wir wußten damals so wenig über diese neue Krankheit; eigentlich nur das, was seit Wochen in sämtlichen Blättern stand, daß eine Pandemie auf uns zukäme, daß es nicht ausschließlich sexuelle Übertragungswege gäbe, daß Schwule mehr als andere gefährdet seien, daß Aids bald und immer zum Tode führe … Und ich hatte, bis ich dir begegnete, nicht einmal gewußt, was ein Junkie ist.
Nachdem Clara wieder ein bißchen geweint hatte, der Schnaps alle, Juli blau, Marlene übel und Marc am Ende seiner Bemühungen war, zahlte ich die Rechnung und hielt, auch weil dein Schweigen mich zwang die Initiative zu ergreifen, mit gesenktem Kopf eine kleine, wie sich bald zeigte, nicht allzu überzeugende Rede. Außer Sex sei nichts wirklich schlimm, und am schlimmsten sei es doch für dich, und wenn wir dich jetzt hängenließen, das sei noch schlimmer. Sie sollten mich morgen bitte, bitte anrufen, sollten wenigstens pro forma dabeibleiben. Um den Rest würde ich mich schon kümmern …
«Du bist eine selten blöde Kuh«, unterbrach mich Marlene — von ihrem Stuhl hochfahrend und mit den Armen fuchtelnd; ihre Augen glänzten, ihre Nasenflügel bebten, ihre kalten Finger streiften meine Hand. Dann ging sie ohne ein weiteres Wort, ohne ein Lächeln oder Winken, aufrecht wie eine Schlafwandlerin zur Tür und hinaus.
Wir anderen gingen auch, jeder für sich, nur ich mit dir. Denn daß du den Rest jenes Abends, die Nacht und die Hälfte des folgenden Tages in meiner Obhut zu verbringen hattest, war harryplanmäßig, gehörte nicht zum stillschweigend Beschlossenen, von dem ich noch nicht wußte, was genau es war. Würden einige durchhalten oder alle auf einmal abspringen? Wer würde sich eventuell erweichen lassen und zumindest zur letzten Gruppensitzung kommen? Oder müßtest du demnächst zurück in den Knast, weil die meisten deiner Groupies dir und mir morgen nicht mal mehr adieu, Joe aber telefonisch Bescheid sagen würden, und schon wär’s aus und vorbei? Mit derlei absurd-praktischen Fragen versuchte ich, das Grauen abzuwehren, das in mich einsickerte, sobald ich mir die kleinste Denkpause erlaubte. Doch ich war erschöpft, und irgendwann würde ich meinen Widerstand aufgeben, mich hinlegen müssen, und dann würde es mit aller Macht kommen, das Grauen, mich fluten, mich ersäufen und wegspülen, weit weg von dir.
Bis zur U-Bahn, während der Fahrt, auf dem Weg in unsere Straße und noch hinter meiner Wohnungstür warst du grabesstill. Auch ich sagte kein Sterbenswort. Selbst das Küchenradio, an dem du sonst immer gleich herumdrehtest, bis du eine dir genehme Musik gefunden hattest, blieb stumm. Ich entkorkte eine Flasche Rotwein und setzte mich, du dich auf den Stuhl mir gegenüber. Nach dem dritten schweigend geleerten Glas begann ich zu weinen. Die Tränen liefen wie Wasser aus mir heraus; ich schluchzte, schniefte, stöhnte — und konnte mir nicht vorstellen, jemals wieder damit aufzuhören. Du gingst nicht weg, kamst mir aber auch nicht näher.
Es ist deshalb, sagte ich, als ich weiß nicht wieviel Zeit vergangen war, deshalb holst du mich jedesmal von der Palme. Deshalb durfte ich dir keinen … Ich brachte das Wort» blasen «nicht über die Lippen, fand es aber plötzlich so komisch, daß ich anfing zu lachen und dabei munter weiterweinte. Wenn das nicht hysterisch war, Harry, was war es dann?!
Du erhobst dich, holtest Butter, Wurst, Tomaten aus dem Kühlschrank, schmiertest mir Stullen, entkorktest für mich die nächste Flasche Rotwein und machtest dabei Geräusche, die womöglich besänftigend sein sollten.»Pst, pst«, zischtest du, als hättest du es mit einem greinenden Säugling zu tun und nicht mit deiner verzweifelten Freundin, die umzukommen glaubte, wenn auch erst einmal nur vor Angst.