Mein Verdacht oder Wunsch, dir ähnlich zu sein, bewirkte keine Nähe; er war, ist, bleibt paradox, nicht zu begründen, vielleicht nur eine emotionale Halluzination. Wir stimmten nicht miteinander überein und paßten auch nicht zusammen, weder äußerlich noch sonstwie. Eher war es so, daß ich bei dir etwas witterte, wofür mir zuerst das magere Wort Gegenteil einfällt. Ich könnte es auch Kontrast nennen, wenn das nicht zu sehr auf Komplementäres, also auf Ergänzung hindeutete. Du warst radikal anders als ich, bist es sicher mehr denn je. Womöglich waren meine — allemal von Fehlinterpretationen, Irrtümern, Rückschlägen begleiteten — Versuche, dich zu ergründen, einfach bloß eigennützig. Vielleicht hoffte ich, über den intimen Kontakt mit dem Fremden, als den oder das du dich mir darstelltest, auch mich erforschen zu können, und hielt es schlicht für gefahrloser, in dir zu entdecken, was ich in mir nur vermutete oder vermuten mochte. Du tatest Dinge, die ich nie getan hätte, aber verstand. Du konntest dich verweigern, wo ich mich auslieferte, so, wie ich es gelernt hatte: gegen meinen Willen, den ich jedoch erst wieder spürte, als du mir zeigtest, wie man nicht nachgibt, egal um welchen Preis. Dir gelang manches, wozu ich unfähig war; ich wiederum meisterte Situationen, in die du gar nicht erst kamst. Und wenn du mich jetzt fragtest, was du mich zum Glück nie gefragt hast, denn damals hätte ich gelogen, würde ich nein sagen; nein, ich liebte dich nicht, obwohl du für mich wie ein Bruder warst (ein passenderes Wort für das, was ich meine, kenne ich ja nicht), aber eben kein leiblicher, sondern einer, der mit mir schlief, vögelte, kopulierte (welchen dieser Begriffe würdest du nicht streichen?), wann immer ich es wünschte.
Die Stille war quälend; deinen Blick hielt ich auch nicht mehr aus, und für die nächsten fünf Minuten, wenigstens die, hatte anscheinend keiner von uns einen Plan oder zumindest einen Vorschlag. Den machte nun ich, und er überraschte mich mehr als euch. Hört mal zu, Jungs, sprach ich munter wie eine Turnlehrerin, ich muß jetzt wirklich weiter, ein paar Dinge erledigen. Doch falls ihr am Sonntag nichts Besseres vorhabt, könnten wir gemeinsam essen, bei mir in Moabit. Ich mach Spargel mit kleinen Schnitzeln. Oder möchtet ihr lieber Rouladen?
In deinem Gesicht ging etwas vor, was ich nicht zu deuten vermochte; doch dann erhellte sich deine Miene, so enorm, als wären all die düsteren Gedanken, die sich in den Stirnfalten über deinen eben noch hochgezogenen Augenbrauen verborgen hatten, hervorgekrochen und binnen einer Sekunde zu paarungsbereiten Glühwürmchen mutiert.»Au ja«, riefst du,»Spargel hatten wir lange nicht mehr.«
Ich schrieb euch meine Telefonnummer, die richtige, auf eine Serviette, ebenso meine Adresse.
«Aha, Moabit. Auch ne schöne Gegend, stimmt’s, Ben?«sagtest du heiter und seltsam gedehnt, so, als hätte ich gerade einen Witz erzählt, den du dir unbedingt merken müßtest.
Wir verabredeten uns für sechs Uhr abends. Ich sargte meinen Kasper wieder ein, klemmte mir den Karton unter einen Arm, die Tasche unter den anderen und die Rose zwischen die Zähne und machte mich winkend vom Acker. Ihr hattet behauptet, noch sitzen bleiben zu wollen.
Draußen atmete ich tief durch, lief los ohne Sinn und Verstand. Ob ihr kommen würdet, war mir nicht egal, deinetwegen. Dennoch hätte ich nicht zu sagen gewußt, ob ich mehr hoffte oder eher fürchtete, daß ich übermorgen alleine dasäße mit meinen zwei Litern Bouillon, der Schüssel voll Obstsalat, den vier Kilo Spargel und den zehn Schnitzeln; soviel sollte es schon sein, selbst wenn ich vergeblich auf euch warten und in der Nacht mal wieder alles vor die Tür meiner kinderreichen Nachbarn stellen würde.
Hinterm Winterfeldtplatz, in einem Laden, der» Zum Affen «hieß und nicht so aussah, als könnte er auch euch zur Einkehr verlocken, gönnte ich mir erst mal ein Bier. Ich war froh, der Situation entronnen zu sein, und vermißte dich doch schon. Allmählich begriff ich, daß ich nun auch hier einen Menschen kannte, einen männlichen zudem, der nicht in solch einem durchsichtigen Sack steckte, den ich damals noch als Zellophan- oder Plastebeutel bezeichnet hätte und nicht mit dem blödsinnigen Wort Plastiktüte, das mir seither kaum leichter über die Lippen kommt (doch derart kleine Opfer darf eine perfekte Assimilation wohl verlangen).
An die Lokale, in denen ich viele weitere Getränke konsumiert haben mußte, konnte ich mich am nächsten Morgen nicht mehr erinnern, aber wenigstens daran, daß ich Punkt neun Uhr dreißig den Blumenjob anzutreten hatte. Zwischen Küche und Zimmer fand ich BH, Unterhose, Schuhe, den Sommerhänger, die Strickjacke und meine Tasche wieder. Im Zahnputzglas auf dem Fensterbrett stand, mit Leitungswasser wohlversorgt, auch deine — trotzdem völlig verwelkte — Rose.
Nur der Harlekin blieb, als hätte ich ihn bloß geträumt, spurlos verschwunden — samt der angeknautschten lila Pappschachtel, aus der ich ihn ganz sicher kein zweites Mal herausgenommen hatte und hätte. Ach, Harry, möge diese Schachtel unseren Harlekin, wohin auch immer es ihn verschlug, für alle Zeiten bewahren — vor Hunden, Katzen und den Blicken einer jeden angeblich vernunftbegabten Kreatur.
«Essen ist Mist, schon bevor es dazu wird und kaum wieder rauswill aus unsereinem, das hat mich schon seit der Kindheit nicht mehr gereizt. Ich nahm, was es gerade gab, soviel wie nötig, sowenig wie möglich. War auch besser in den Jahren, die dann kamen. Mußte ich kein Geld für ausgeben, hätte ohnehin nichts übrig gehabt. Aber jetzt, unter den Ahnungslosen … Wenn die gut zu dir sein wollen, packen sie dir den Teller randvoll. Und du hast zu schaufeln, sonst gucken sie komisch. Bevor ich die Gabel endgültig niederlege, spreche ich immer ein paar lobende Worte: Tolle Soße, schmeckt fein, der Braten ist ja superzart. Dann strahlen sie wie frisch gefickte Eichhörnchen.«
IV
Den Stand neben dem Eingang zum stillgelegten S-Bahnhof Halensee gab es nur an den Wochenenden und Feiertagen der frostfreien Jahreszeit; er gehörte Franz, einem ruhigen, untersetzten, vielleicht fünfzigjährigen Kerl, der, wie Christoph meinte, ostwestfälischen Dialekt sprach. Morgens, wenn Franz, dessen Familiennamen ich nie erfahren habe, die Rosen-, Tulpen-, Chrysanthemen-, Lilien-, Gerbera- und Palmenblätterbündel aus seinem Lieferwagen zerrte, und ebenso abends, wenn er das Geld abholte, die mehr oder weniger leeren Eimer, den großen Schirm gegen Sonne und Regen, die beiden hölzernen Böcke und die mächtige Stubentür, die uns, also mal Christoph, mal mir, als Verkaufstresen diente, hatte er immer» Biene «dabei, seine dicke gelb-schwarz gescheckte Schäferhündin, in der eine Leidenschaft für kalte Bockwürste glomm; doch ansonsten wohl keine, denn sie bellte nie, verließ nicht einmal die Ladefläche des Fahrzeugs, bis Franz oder ich nach vollbrachtem Standaufbau endlich hinüberschlenderten zu dem Kiosk, der ihr Lieblingsfressen feilbot, und selbst dann mußte Franz sie erst mit einem eigentümlich melodischen Pfiff dazu auffordern, richtiger darum bitten.
Als ich mich zum erstenmal der von Christoph beschriebenen Stelle an der Halenseebrücke näherte, hatte Franz schon damit begonnen, ein paar Utensilien auf die Straße zu räumen, mich aber wohl auch erwartet, mein unsicheres Interesse an seinen Verrichtungen bemerkt, denn er ließ alles stehen und liegen, kam mir ein Stückchen entgegen und nickte seltsam scheu. Seine Augen musterten mich kurz, von unten nach oben, dann reichte er mir zögernd die Hand, eine derart rauhe, daß ich annahm, er sei tatsächlich Gärtner. Franz sah mir, weil er ohne zu erröten keinen Blick erwidern konnte, auf die Brust und sagte eher gleichgültig als freundlich:»Gut, du bist die Neue. Das da«, er wies mir ein zangenähnliches Gerät,»ist der Abdorner, den du für die Rosen brauchst. Rechts am Brettrand hängt die Schere, daneben eine Rolle Blumenbast, die mit dem Einschlagpapier gehört in die Halterung davor. Die Stückpreise«, er wandte sich den Eimern zu,»stehen fest, aber von zwanzig Mark aufwärts kannste was nachlassen. Und das«, er reichte mir zwei schmuddlige Zigarrenkisten,»ist für die Kohle; in die kleinere kommen die Scheine, in die größere die Münzen. Und der hier«, er schob mit dem Fuß einen Schemel unter den aufgespannten Schirm,»ist zum Hinsetzen, wenn’s mal nicht so dolle läuft.«