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Irgendwann in dieser Nacht mußte ich meinen Stuhl verlassen, mich auf eine der beiden Matratzen gesetzt haben und dort, so wie ich war, in Schlaf gesunken sein.

Als ich erwachte, vor Durst oder vom Vogelgeschrei oder dem Morgenlicht, das durchs Fensterglas fiel, und um mich blickte, bemerkte ich dich auf der zweiten Matratze, nur dich; Benno war wohl gegangen, zumindest nicht in deiner Nähe. Ich stolperte, dem Tisch mit den Resten unseres Mahls und meines Gelages gerade noch ausweichend, in den Flur, stieg, da ich Benno auch dort und in der Küche nicht begegnet war, aus meinem zerknitterten, seltsamerweise bis zum letzten Loch aufgeknöpften Kleid, trank Wasser, suchte nach meinem Bademantel, der sich nicht an seinem Platz, dem Haken hinter der Zimmertür, befand. In einer Regenjacke, die ich von der Flurgarderobe gepflückt hatte, kehrte ich auf Zehenspitzen zu dir zurück, sah, daß du dich mit meinem Bademantel zugedeckt hattest, und deine großen, schmalen Füße — und dann dein Gesicht, das ganz entspannt, ja, vollkommen spannungslos war, als lägest du in Narkose. Das Kinn war dir auf die Brust gesunken, deine Lippen gaben deine gar nicht spitze, sondern seltsam breite, lappenschlappe Zungenspitze frei. Und nicht nur dein Mund stand halb offen, auch deine Lider; die von ihnen kaum verborgenen Augäpfel waren nach oben gerollt, jedenfalls so verdreht, daß nur das Weiße mich anstarrte. Seit jenem Sonntag hast du mein Leben nicht mehr verlassen, und dein Kumpel Benno tauchte nicht wieder auf. Als ich ein- oder höchstens zweimal nicht sonderlich interessiert nach ihm fragte, meintest du bloß:»Keine Ahnung, wo der abgeblieben ist.«

VI

Am späten Vormittag fand ich trotz schweren Katers die Kraft, auf die nächste Mütze voll Schlaf zu verzichten. Ich erhob mich von der Matratze, warf meine Bettdecke über dich, nahm ein paar Sachen aus dem Schrank, ging duschen, mich anziehen, das Frühstück zubereiten.

Als ich mich gerade hingesetzt hatte, appetitlos ein viel zu mächtig geratenes Rührei mit Speck umgrub und in meine Tasse gähnte, erschienst du im Rahmen der Küchentür, hieltest fröstelnd die Revers meines Bademantels über deiner Brust zusammen, ließest dich nieder hinter dem Gedeck, das ich für dich aufgelegt hatte, und wolltest weder etwas essen noch Kaffee, nur einen Schluck Cola.

Ich fühlte mich beschissen, weil ich um diese Tageszeit und in einem solchen Zustand lange keinen Besuch mehr gehabt hatte, schon gar nicht einen, den ich kaum kannte, der mir aber dennoch alles andere als egal war. Bei dem Versuch zu lächeln, dem zu begegnen, wovon ich glaubte, es sei dein kritisch-finsterer Blick, spürte ich, wie die Haut über meinen Wangen spannte, wie geschwollen meine Lider noch waren, wie mir die Augen tränten. Mir ging auch nicht aus dem Kopf, daß ich im offenen Kleid erwacht war, jedoch ohne Erinnerung an den Grund dafür. Hatten wir einander nun angefaßt, oder wünschte ich mir bloß, daß es so gewesen sei? Dein nicht kritischer, trotzdem finsterer Blick hielt, als es mir endlich gelang, ihn zu erwidern, vollkommen dicht — und meinem stand, bis ich wegschauen mußte.

Weißt du, Harry, wie ich den bewundert und gehaßt habe, deinen üblichen Blick aus extrem geweiteten Pupillen, der mich absichtslos bezwang, der mir, da er unvergleichlich ruhig, aber leer war, völlige Deutungsfreiheit einräumte und doch dafür sorgte, daß jeder meiner Projektionsversuche an dir abprallte, der mich, wie eine schwarze Welle, immer wieder auf mich selbst zurückwarf, was einerseits Kraft kostete, andererseits stark machte.

«Und?«sagtest du mit rauher Stimme.

Ich wußte nichts zu antworten, starrte minutenlang auf einen Brandfleck in der Tischplatte, sog, weil ich mir selber noch keine anzünden mochte, mit geblähten Nasenlöchern den Qualm deiner Zigarette ein. Eher aus Verlegenheit als aus Neugier habe ich dich irgendwann gefragt, was du nun vorhättest, ob wir vielleicht spazierengehen sollten.

«Nein«, meintest du,»heute nicht mehr. Aber wir könnten uns mal wieder ein bißchen ausruhen.«

Mir war nicht klar, was genau du dir darunter vorstelltest. In der Horizontale Musik hören, rücklings rauchen, fernsehen und dabei einnicken, all diese» Untaten«, wie du dergleichen manchmal nanntest, hießen bei dir ausruhen. Doch das wußte ich an jenem Montag ja noch nicht — und folgte dir mit weichen Knien in mein Zimmer. Ich ließ mich auf die eine Matratze sinken, du dich zu meinem Erstaunen aber nicht über oder wenigstens neben mich, sondern auf die andere. Wir lagen ganz still, atmeten flach, fast tonlos, wie Eidechsen in der Sonne; das einzige, was ich deutlich spürte und sogar hörte, war das Knistern meines Haars, als unsere Schädel einander touchierten.

Ich wähnte dich schon schlafend und beschloß enttäuscht, es dir gleichzutun, da begannst du die längste Rede, zu der du dich in meiner Gegenwart je hast hinreißen lassen. Du seiest erst vor vierzehn Tagen aus dem Knast raus, JVA Tegel, auf Bewährung, weil du dich bereit erklärt hättest,»am Arsch der Stadt«, in Düppel-Süd, an so einer» Therapie-statt-Strafe-Maßnahme nach Paragraph 35 des Betäubungsmittelgesetzes «teilzunehmen. Doch bald hätte es» einen Vorfall gegeben, nichts Schlimmes, nur einen kleinen Verstoß gegen die Bauernhofregeln«, für den euch allerdings die»übelsten Konsequenzen «angedroht worden wären. Daraufhin hättest du deinem Freund Benno, der zusammen mit dir wegen» schweren Raubes «verurteilt worden wäre und sowieso meistens deiner Meinung,»beigebogen«, daß ihr» diesen Krümelkackern den dicken Daumen zeigen«, also» erst einmal abhauen «müßtet.

Du sagtest das langsam, leise und im Liegen. Nur ich war von meiner Matratze hochgefahren, schon bei dem Wort Knast, und hatte mich vor dir aufgebaut, in klassischer Pose: breitbeinig, die Fäuste in die Hüften gestemmt; doch du verzogst bloß spöttisch den Mund, als hättest du mich mit geschlossenen Augen sehen können. Deine Hand kam, eine Spinne imitierend, unter der Bettdecke hervorgekrabbelt, tastete nach einem meiner nackten Füße, umfaßte das Knöchelgelenk — wie eine Beute — und drückte zu, so überraschend kraftvoll, daß ich vor dir in die Knie ging. Dann legtest du mir den Arm um den Hals, und ich schmiegte mein Gesicht an deine Brust. Eher aufgeregt als erregt, erwartete ich dennoch mehr, wollte dir entgegen-, ja zuvorkommen, und zerrte, soweit die Fixierung, in die du mich genötigt hattest, dies zuließ, an den Knöpfen meiner Jeans.

Der Trick oder was das war, mit dem du mir wie einem Gummitier die Luft herausließest, bestand in einem kleinen, spitzmäuligen, geradezu lächerlich sanften Kinderkuß, von dem meine Wange noch Stunden später glühte, als hätte mich etwas gestochen oder gebissen.

Damit, daß ich einen solchen Kuß bekäme, hatte ich nicht gerechnet, nicht in diesem Moment, nicht so viele Jahre zu spät, eigentlich nie. Und das Wort Kinderkuß ist auch nicht genau genug, denn dein erster Kuß, Harry, war nicht wie von einem Kind, sondern wie für ein Kind, und wenn er nicht so unglaublich liebevoll und ich nicht so verblüfft gewesen wäre, hätte ich gedacht: Der will mich nicht — oder höchstens verarschen. Seit der Sekunde, da deine Lippen meinen auswichen, bloß meinen linken Mundwinkel und mich darum um so mehr berührten, wußte ich, das ist der Kuß, den mir keiner gegeben hatte, in einer Zeit, zu der Küsse wie dieser gehört hätten.

Mein Erschrecken darüber, die darauf folgende Mischung aus Trauer und etwas Freude, kann ich nur mit jenem Gefühl vergleichen, das mich erfaßte, als ich im Mai 1984, zwei Jahre vor meinem Umzug in dein Deutschland, von Ulan Bator nach Irkutsk geflogen war und am Saum des Rollfelds den Wald bemerkte und unter Tränen lachend stehenblieb, weil ich beim Anblick dieser sibirischen Fichten begriff: Ich hatte seit zehn Monaten keinen Baum gesehen. Verstehst du? Erst als ich wieder Bäume sah, wußte ich, daß sie mir gefehlt hatten und wie sehr.