Dein Kuß rief einen ähnlich süßen Schmerz hervor, zumal das Brennen, das ihm folgte, wohl doch nur von Scham verursacht war; denn auch dies wußte ich plötzlich: daß alle Küsse, an die ich mich erinnern konnte, selbst die frühesten, das gewesen waren, was ich von dir erwartet, aber nicht bekommen hatte und umgekehrt. Harry, deinen beunruhigend harmlosen Premierenkuß von so brutaler Zärtlichkeit, daß mir heute noch heiß wird, wenn ich nur daran denke, gabst du einer, der Selbstmitleid ziemlich neu war, die vor jener noch immer andauernden Sekunde, in der sie diesen nicht sexuellen Kuß empfing, kaum für möglich gehalten hätte, daß sie sich als Kind nach genau dem gesehnt haben könnte — und nie nach einem von den anderen Küssen. Und jetzt sage ich dir, was du damals nicht wissen solltest, weil ich mich nur geschämt und dich vielleicht in Verlegenheit gebracht hätte, daß schon die Vaterküsse, die das Sojalein einst hinnahm, runterschluckte wie klumpigen Reisbrei, Männerküsse gewesen waren, ungekonnte zudem, die es nicht gemocht, aber für alternativlos gehalten hatte.
Und jene Männer, die meinen Vater ablösten und schließlich ersetzten, küßten weder anders noch besser. Und Mutter- oder Omaküsse waren nicht vorgekommen; und später, als mich dann doch einige Frauen küßten, unterschieden die sich dabei wenig von den Männern, und auch sonst nicht so sehr, daß sie mir grundsätzlich lieber gewesen wären.
«Tja, Soja«, sagtest du, während ich, an deiner Brust klebend, widerstandslos auf und ab wogte,»nun ist, wie jeder Rennfahrer weiß, gutes Rad teuer, denn ich werde per Haftbefehl gesucht, weil ich die Bewährungsauflagen verletzt, mich der gerichtlich verfügten Therapie durch Flucht entzogen habe. Und wenn ich nicht schnell eine Therapie bei einem anderen offiziell anerkannten Laden aufreißen kann, muß ich zurück in den Bau.«
Ich begriff nicht ganz den Sinn deiner Rede, war auch noch zu beschäftigt mit mir, richtiger den Turbulenzen, in die dein Kuß mich gestürzt hatte, und fragte nach: Welcher Bau? Therapie wogegen?
Da sprachst du dieses seltsam melodisch klingende Wort aus, das mich noch mehr verwirrte, obwohl oder gerade weil ich kein Englisch verstand, aber doch irgendwie wußte, daß der Kontext, in dem ich es schon mal gehört oder gelesen hatte, ein zutiefst finsterer war:»Junkie.«— Erst von dir erfuhr ich, was das bedeutet, nicht» Rauschgiftsüchtiger«, wie im Wörterbuch behauptet, sondern (menschlicher) Ausschuß, Schund, Müll, Abfall.
«Ich habe mich nie aus Angst auf Entzug gesetzt. Solange man im Loch steckt, ist es egal, ob man weitermacht oder seinen krummen Löffel schon vorher abgibt. Das eine ist nicht verlockender als das andere. Wenn alles normal läuft, hat man immer was zu tun, vergeht die Zeit mit Kohle beschaffen, Stoff bunkern, Venenpflege, Vorfreude und Enttäuschung, weil das Zeug nicht mehr so gut kommt wie früher oder mal wieder so vermistet ist, daß einem bloß noch schlecht davon wird. Aber krepieren will man ebensowenig wie eine Fliege, die sich ja auch nicht einfach erschlagen läßt: Hat kein Gehirn und lebt doch. Gute Vorsätze gibt’s nur für Draußen und zu Silvester. Wenn Draußen näher rückt, ist selbst zu Ostern oder Pfingsten Silvester.«
Ich weiß nicht, warum ich kaum reagieren konnte, ob es nur an dem Kuß lag, daran, daß der mich nicht hatte zurückschrumpfen lassen in die Barbarei meiner Kindheit, seltsamerweise aber doch den Wunsch in mir weckte, wieder klein zu sein und noch viele Male so geküßt zu werden. Oder rührten mich eher deine halbgeschlossenen Lider und die Schatten darunter? Oder empfand ich schon so etwas wie erleichtertes Mitleid, weil ich, obwohl ich drüben mehrfach bei kleineren und größeren Schweinereien erwischt worden war, im Unterschied zu dir dank mütterlicher Macht um das wirkliche, das nicht bloß DDR genannte Gefängnis herumgekommen war?
Jedenfalls schwieg ich eine Weile, beharrlich und überzeugend. Vielleicht mußtest du deswegen weitersprechen, mir von dir erzählen, von deinem Vater, einem Neuköllner Fuhrunternehmer, der deine Mutter aus dem Fenster eurer Wohnung geschubst haben soll, als du vier Jahre alt warst. Sie könnte auch gefallen sein, freiwillig oder versehentlich, denn gesoffen habe sie ja nicht zu knapp, schon immer, wie dein Vater gesagt hätte, vor Kummer, wie du meintest. Du wärst dann zu deiner Oma nach Lüneburg geschickt worden und dort geblieben, bis plötzlich deren zweiter Mann gestorben sei. Weil du ohnehin eingeschult werden mußtest, habe dein Vater dich zurückgeholt und seiner neuen Frau überlassen; Rosi sei ihr Name. Dein Vater hätte sie aber nur Rosinante genannt — und jeder andere auch.»Diese Rosinante gerufene Rosi, die korrekt vielleicht Roswitha heißt, ist keine von uns, ist eine vierschrötige Oberpfälzerin.«
Ich lauschte deinen Worten nach; vierschrötig und Oberpfalz klangen für mich seltsamer als etwa fragil und Surinam. Oberpfalz, das war irgendwo in Deutschland. Doch was hatte ich mir unter vierschrötig vorzustellen?
«Ja, grob halt«, gabst du zur Antwort,»die Rosinante war grob, gewöhnlich, draller Wanst auf mageren Beinen, eben wie Don Quichotes alte Mähre. Oder was glaubst du, warum wir Rosi weniger treffend fanden als Rosinante und manchmal Tante Rosinante?«
Die Rosinante habe eine Kneipe betrieben, einen» wüsten Preßluftschuppen «mit dem» genauso logischen wie unpassenden «Namen Zur Rose.»Und an ihrem Rockzipfel«, sagtest du,»hing ein Bengel in meinem Alter, der dicke Bernd. «Der sei» ziemlich schlecht drauf gewesen«, hätte viel geheult,»ohne Grund und noch öfter mit«.
Bei Rosinante, hinterm Tresen der Rose, wärt ihr aufgewachsen, dieser Bernd und du. Jeden Nachmittag hättet ihr eure Plastikindianer und Legosteine dorthin geschleppt, und natürlich Taschenlampen, ohne die es zum Spielen zu duster gewesen wäre. Ansonsten hättet ihr» meistens die Schnauze gehalten«. Erstens, weil ihr die Gäste nicht nerven solltet, zweitens, weil es zwischen euch beiden eh selten genug Stoff für ein Gespräch gegeben habe. Bernd,»das tapsige Weichei«, sei» absolut nicht deine Kragenweite«, dir aber» trotzdem nicht völlig schnuppe «gewesen. In der Schule hätte er lange vor dir versagt und auch» die ersten Joints gebaut«, als ihr gerade mal über den Tresenrand gucken konntet, jedenfalls groß genug wart, um Gläser zu spülen oder Bier zu zapfen und euch euer Futter selbst aus der Kneipenküche zu holen, das ewig gleiche: Bockwürste, Knacker, Buletten, Dillgurken, eiskalten Kartoffelsalat. Richtig gekümmert habe sich keiner um euch. Die Gäste seien mürrisch oder abgefüllt oder beides gewesen, Rosinante immer am Ausschenken, Rumschleppen, Zuprosten, Umfallen, Wegschlafen, dein Vater entweder auf Achse oder» in Null Komma nix auf hundert«, wenn er sich gelegentlich doch mal habe blicken lassen, bei seiner» Flickenfamilie«.
Und eines Sonntags im August, Bernd sei gerade zwölf gewesen, du kurz davor, es zu werden, hätte euch der Alte» so übel vermöbelt«, daß ihr den Beschluß faßtet, euch mit Buletten umzubringen; genauer, erst die Buletten zu vergiften» und mit denen dann jeder sich selbst«. Am Automaten hättet ihr vier Schachteln HB gezogen, die Filter von den Zigaretten getrennt, den Tabak aus den Papierchen geschält und unter das zum Abbraten bereitstehende, gewürzte und mit geschrotetem Weißbrot gestreckte Hackfleisch geknetet.»Als Rosinante dann am Herd war, den Bulettenteig portioniert und plattgedrückt ins heiße Fett warf, merkte sie nicht das geringste. Es roch wie sonst, es schmeckte beschissen wie immer, fanden wir, eine Stunde und etliche Klopse später. Bernd wurde zuerst grün im Gesicht und kam zum Kotzen nicht mal mehr auf die Füße, bis zum Klo gleich gar nicht. «Du folgtest seinem Beispiel mit geringer Verspätung und» um einiges würdevoller«, wie du betontest. Ihr hättet in die Klinik gemußt, zum Magenauspumpen, und wärt auch danach noch tagelang krank gewesen, ebenso wie fünf von Rosinantes Stammgästen, die aber bloß je eine, höchstens zwei von den Tabakbuletten gegessen hätten. Alles sei herausgekommen, zum einen» oben und unten «aus euch und zum anderen aufgrund der Analyse des Mageninhalts aller Betroffenen. Dafür hätte euch dein Vater noch einmal verhauen, doch erst als er nicht mehr fürchten mußte, sich an euren» kleinen Idiotenärschen die Hände dreckig zu machen«.