Magenkrämpfe packten ihn, er beugte sich vor, hielt sich am Waschbecken fest. Das ging erst einen Monat so, aber sein Zustand schien sich in erschreckendem Tempo zu verschlimmern.
Es dauerte endlos, bis der Schmerz aufhörte.
Als er sich wieder seinem Abbild im Spiegel gegenübersah, sagte er: »Nicht einmal dir selbst bist du treu, du Arschloch.
Du bringst dich um, arbeitest dich zu Tode und kannst einfach nicht aufhören. Karen bist du nicht treu, dir selbst bist du nicht treu. Nicht einmal deinem Land oder der Agency bist du richtig treu, wenn es darauf ankommt. Verdammt, das einzige, dem du völlig und unerschütterlich ergeben bist - ist diese Spinnervision deines alten Herrn, daß das Leben ein Hochseilakt ist.«
Spinner.
Das Wort schien noch lange, nachdem er es ausgesprochen hatte, im Badezimmer nachzuhallen. Er hatte seinen Vater geliebt und respektiert, ihm nie mit einem Wort widersprochen.
Und doch hatte er heute Cliff gegenüber zugegeben, daß sein Vater >unmöglich< gewesen war. Und jetzt: >Spinnervision<. Er liebte seinen Vater immer noch, würde das immer tun. Aber er begann sich zu fragen, ob ein Sohn seinen Vater lieben und gleichzeitig das, was dieser ihn gelehrt hatte, völlig verwerfen konnte.
Vor einem Jahr, vor einem Monat, ja noch vor ein paar Tagen hätte er gesagt, es sei unmöglich, jene Liebe festzuhalten und doch Herr seines Handelns zu sein. Aber jetzt, bei Gott, schien es nicht nur möglich, sondern wesentlich, die Liebe zum Vater zu trennen von dessen Lehre von der alles überragenden Wichtigkeit der Arbeit.
Was geschieht mit mir? fragte er.
Freiheit? Endlich die Freiheit mit fünfundvierzig?
Er schaute mit zusammengekniffenen Augen in den Spiegel und sagte: »Fast sechsund vierzig.«
NEUN
1
Am Sonntag fiel Travis auf, daß Einstein noch weniger Appetit hatte, aber am Montag, dem 29. November, schien der Retriever wieder ganz in Ordnung zu sein. Am Montag und Dienstag leerte Einstein seine Schüssel bis auf den Boden und las neue Bücher. Er nieste nur einmal, hustete überhaupt nicht. Er trank mehr Wasser als sonst, doch auch nicht in ungewöhnlicher Menge. Wenn es den Anschein hatte, als verbringe er mehr Zeit vor dem Kamin, trotte weniger munter durchs Haus ... nun, der Winter zog schnell herauf, und das Verhalten der Tiere änderte sich schließlich mit den Jahreszeiten.
In einer Buchhandlung in Carmel kaufte Nora eine Ausgabe von Veterinärmedizin für Hundebesitzer<. Sie verbrachte ein paar Stunden am Küchentisch mit Lesen und setzte sich mit Einsteins Symptomen auseinander und dem, was sie möglicherweise zu bedeuten hatten. Sie fand heraus, daß Lustlosigkeit. Niesen, Husten, Appetitlosigkeit und ungewöhnlicher Durst hundert unterschiedliche Gebrechen bedeuten konnten - oder überhaupt nichts. »So ziemlich das einzige, was es nicht sein kann, ist eine Erkältung«, sagte sie. »Hunde erkälten sich nicht wie wir.« Aber als sie das Buch anschaffte, hatten sich Einsteins Symptome ohnehin so weit gelegt, daß sie daraus den Schluß zog, er sei wahrscheinlich völlig gesund.
In der Speisekammer neben der Küche benutzte Einstein die Scrabble-Steine, um ihnen mitzuteilen:
FIT WIE EINE FIEDEL.
Travis kauerte neben dem Hund nieder und streichelte ihn, und dabei sagte er: »Nun, du mußt es ja wissen«, und fragte sich, wo der Hund wohl diese Redewendung aufgepickt habe.
WARUM SAGT MAN: FIT WIE EINE FIEDEL?
Travis legte die Steine in die Plastikschächte zurück und sagte: »Nun, das bedeutet genausoviel wie ... gesund.«
ABER WARUM BEDEUTET ES GESUND?
Travis dachte über die Redewendung - fit wie eine Fiedel - nach und mußte erkennen, daß er einfach nicht wußte, weshalb sie eben das bedeutete. Er fragte Nora, die gerade ins Zimmer kam, aber auch sie konnte den Satz nicht erklären.
Der Retriever holte sich weitere Buchstaben, schob sie mit der Nase herum und fragte:
WARUM SAGEN: GESUND WIE EIN DOLLAR?
»Gesund wie ein Dollar - das heißt verläßlich, eben auch gesund«, sagte Travis.
Nora kauerte sich neben ihnen nieder und meinte zu dem Hund gewandt: »Die Redewendung ist einfach. Früher einmal war der amerikanische Dollar die gesündeste, stabilste Währung auf der ganzen Welt. Wahrscheinlich ist er das immer noch. Jahrzehntelang gab es beim Dollar bei weitem keinen so schrecklichen Kursverfall wie bei einigen anderen Währungen; man hatte keinen Anlaß, den Glauben an den Dollar zu verlieren. Also sagten die Leute: >Ich bin so gesund wie ein Dollar.< Natürlich ist der Dollar nicht mehr das, was er einmal war, und der Satz paßt nicht mehr so gut, aber wir benutzen ihn immer noch.«
WARUM IMMER NOCH BENUTZEN?
»Weil... wir ihn immer benutzt haben«, sagte Nora und zuckte die Achseln.
WARUM SAGEN GESUND WIE EIN PFERD? PFERDE NIE KRANK?
Travis sammelte die Steine ein und sortierte sie wieder ein. »Nein. Tatsächlich sind Pferde trotz ihrer Größe ziemlich empfindliche Tiere. Sie werden recht leicht krank.«
Einstein blickte erwartungsvoll von Travis zu Nora.
Nora sagte: »Wahrscheinlich sagen wir, daß wir so gesund sind wie ein Pferd, weil Pferde so stark aussehen, so, als würden sie nie krank, obwohl sie dauernd krank sind.«
»Du mußt dich damit abfinden«, sagte Travis zu dem Hund. »Wir Menschen sagen die ganze Zeit Dinge, die keinen Sinn ergeben.«
Indem er das Pedal, das die Buchstaben lieferte, mit der Pfote betätigte, erklärte der Retriever:
IHR SEID EIN SELTSAMES VOLK.
Travis schaute Nora an, und dann lachten beide.
Darunter setzte der Retriever:
ABER ICH MAG EUCH TROTZDEM.
Einsteins Wißbegierde und sein Sinn für Humor schienen darauf hinzudeuten, daß er, falls er wirklich ein wenig unpäßlich gewesen sein sollte, jetzt wieder in Ordnung war.
Das war Dienstag.
Am Mittwoch, den l. Dezember, malte Nora in ihrem Atelier im Obergeschoß, und Travis verbrachte den Tag mit der Inspizierung seines Sicherheitssystems und mit routinemäßiger Waffenpflege.
In jedem Raum war eine Feuerwaffe versteckt, sei es unter einem Möbelstück, hinter einem Vorhang oder in einem Schrank, stets aber so, daß sie leicht erreichbar war. Sie besaßen zwei Mossberg-Schrotflinten mit Pistolenkolben, vier Smith & Wesson vom Modell 19 Combat Magnum, die mit .357-Kaliber geladen waren, zwei .38er-Pistolen, die sie im Pick-up und im Toyota verstaut hatten, einen Uzi-Karabiner und zwei Uzi-Maschinenpistolen. Sie hätten ihr ganzes Arsenal legal in einem Waffengeschäft erwerben können, sobald sie ein Haus gekauft und damit einen regulären Wohnsitz im County errichtet hatten. Aber Travis war nicht bereit gewesen, so lange zu warten. Er hatte die Waffen in der ersten Nacht haben wollen, in der sie ihr neues Haus bezogen. Deshalb hatten er und Nora über Vermittlung Van Dynes in San Francisco einen illegalen Waffenhändler ausfindig gemacht und sich bei ihm besorgt, was sie brauchten. Natürlich hätten sie bei einem lizensierten Waffenhändler keine Umbausätze für die Uzis kaufen können, was in San Francisco sehr wohl möglich war; deshalb waren der Uzi-Karabiner und die Pistolen jetzt vollautomatisch.
Travis ging von Zimmer zu Zimmer und vergewisserte sich, daß die Waffen sich jeweils am richtigen Platz befanden, frei von Staub waren, nicht geölt werden mußten und volle Magazine hatten. Er wußte, alles war in Ordnung, aber er fühlte sich einfach sicherer, wenn er diese Inspektion einmal die Woche durchführte. Obwohl er seit vielen Jahren keine Uniform mehr trug, waren das militärische Training und der Drill immer noch Teil seiner selbst und traten unter Druck schneller wieder an die Oberfläche, als erwartet.