Nora weinte jetzt wieder. Sie hatte gedacht, sie hätte sich im
Griff, könne stark sein. Und doch weinte sie jetzt. Sie ging zu Einstein, setzte sich neben ihn auf den Boden und legte ihm eine Hand auf die Schulter, einfach um ihn wissen zu lassen, daß sie da war.
Keene wurde jetzt angesichts ihres Gefühlsausbruchs ungeduldig und zugleich verwirrt. In seine Stimme schlich sich jetzt etwas Strenge, als er sagte: »Hören Sie, wir können nicht mehr tun, als ihn erstklassig versorgen und auf das Beste hoffen. Er wird natürlich hierbleiben müssen, die Staupe-Behandlung ist kompliziert und muß unter ständiger tierärztlicher Überwachung erfolgen. Ich muß ihn intravenös ernähren und mit Antibiotika versorgen ... Und falls er anfängt, Krämpfe zu bekommen, kommen Sedativa hinzu.«
Einstein zitterte unter Noras Hand, als hätte er diese schlimme Aussicht gehört und begriffen.
»Schön. In Ordnung. Ja«, sagte Travis. »Es ist offensichtlich so, daß er hier in Ihrer Praxis bleiben muß. Wir werden bei ihm bleiben.«
»Das ist nicht nötig ...«, begann Keene.
»Richtig, ja - nötig ist es nicht«, sagte Travis schnell. »Aber wir wollen bleiben, das geht schon. Wir können hier auf dem Boden schlafen«
»Oh, ich fürchte, das wird nicht gehen«, sagte Keene.
»O doch, ganz sicher geht das«, sagte Travis in seinem Eifer, den Tierarzt zu überzeugen. »Machen Sie sich unseretwegen keine Sorgen, Doktor. Wir kommen schon klar. Einstein braucht uns hier, also werden wir bleiben, und wir bezahlen Sie natürlich für die Ungelegenheiten.«
»Aber ich führe kein Hotel!«
»Wir müssen bleiben!« sagte Nora entschieden.
»Jetzt hören Sie mal«, meinte Keene. »Ich bin ja ein vernünftiger Mann, aber...«
Travis packte mit beiden Händen die Rechte des Tierarztes und hielt sie zur Verblüffung Keenes fest. »Hören Sie, Dr. Keene, bitte, lassen Sie mich versuchen, es Ihnen zu erklären. Ich weiß, es ist eine ungewöhnliche Bitte. Ich weiß, wir müssen auf Sie wie zwei Verrückte wirken, aber wir haben unsere Gründe. Und es sind gute Gründe. Das ist kein gewöhnlicher Hund, Dr. Keene. Er hat mir das Leben gerettet...«
»Und meines ebenfalls«, sagte Nora.
»Und er hat uns zusammengebracht«, sagte Travis. »Ohne Einstein wären wir einander nie begegnet, hätten nie geheiratet und wären beide tot.«
Erstaunt sah Keene zuerst Travis, dann Nora an. »Sie meinen, er hat Ihnen das Leben gerettet - buchstäblich?« »Buchstäblich«, sagte Nora.
»Und dann hat er Sie zusammengebracht?«
»Ja«, sagte Travis. »Er hat unser Leben mehr verändert, als wir sagen oder erklären können.«
Der Tierarzt, immer noch von Travis festgehalten, sah Nora an, blickte dann auf den keuchenden Retriever hinab, schüttelte den Kopf und sagte: »Ich bin ganz wild auf Geschichten über Heldentaten von Hunden. Die möchte ich ganz sicher auch hören.«
»Wir erzählen Ihnen alles«, versprach Nora. Aber, dachte sie dabei, es wird eine sorgfältig redigierte Version der Wahrheit sein.
»Als ich fünf Jahre alt war«, meinte James Keene, »hat mich ein schwarzer Labrador vor dem Ertrinken gerettet.«
Nora erinnerte sich an den schönen schwarzen Labrador irr: Wohnzimmer und fragte sich, ob er wohl ein Nachkomme des Tieres sei, das Keene gerettet hatte - oder nur eine Erinnerung daran, in wie tiefer Schuld er bei Hunden stand.
»Also gut«, sagte Keene, »Sie können bleiben.«
»Danke.« Travis' Stimme klang brüchig. »Ich danke Ihnen.» Keene befreite seine Hand aus Travis' Griff und sagte »Aber bis wir sicher sein können, daß Einstein überlebt, werden wenigstens achtundvierzig Stunden vergehen. Das wird eine lange Zeit.«
»Achtundvierzig Stunden ist gar nichts«, sagte Travis »Zwei Nächte, die wir auf dem Boden schlafen müssen. Das schaffen wir.«
»Ich habe das Gefühl, daß für Sie beide achtundvierzig Stunden eine Ewigkeit dauern werden«, meinte Keene, »so wie die Umstände liegen.« Er schaute auf die Armbanduhr und meinte dann: »In zehn Minuten kommt meine Assistentin, dann öffnen wir die Praxis für den Vormittag. Ich kann Sie nicht hier um mich haben, während ich mich um andere Patienten kümmere. Und Sie werden auch ganz bestimmt nicht im Wartezimmer unter besorgten Tierhaltern und kranken Tieren warten wollen, das würde Sie nur deprimieren. Sie können im Wohnzimmer warten. Wenn ich dann am späten Nachmittag die Praxis schließe, können Sie ja hierher zurückkommen, um bei Einstein zu sein.«
»Dürfen wir untertags mal reinsehen?« fragte Travis.
Keene lächelte. »Also schön. Aber nur ganz kurz.«
Unter Noras Hand hörte Einstein schließlich zu zittern auf. Etwas von dem Druck löste sich, er entspannte sich, als hätte er gehört, daß sie in seiner Nähe bleiben würden, und wäre deswegen sehr beruhigt.
Der Vormittag verstrich qualvoll langsam. In Dr. Keenes Wohnzimmer gab es einen Fernseher, Bücher und Zeitschriften, aber weder Nora noch Travis brachten es fertig, für Fernsehen oder Lesen auch nur das geringste Interesse aufzubringen.
Etwa jede halbe Stunde huschte einer von ihnen den Korridor hinunter und spähte zu Einstein hinein. Sein Zustand schien sich nicht zu verschlechtern, besserte sich aber auch nicht.
Einmal kam Keene herein und sagte: »Übrigens, benützen Sie ruhig das Bad. Und im Kühlschrank sind kalte Getränke. Wenn Sie wollen, können Sie sich auch Kaffee machen.« Er sah lächelnd auf den schwarzen Labrador, der neben ihm stand. »Und dieser Bursche hier ist Pooka. Wenn Sie es zulassen, liebt er Sie zu Tode.«
Pooka war tatsächlich einer der freundlichsten Hunde, die Nora je gesehen hatte. Er rollte sich auf den Rücken, ohne daß man ihn dazu aufzufordern brauchte, spielte tot, setzte sich auf die Hinterbeine und schnüffelte dann schweifwedelnd herum, um sich mit ein paar Streicheleinheiten belohnen zu lassen.
Den ganzen Vormittag lang ignorierte Travis das Werben des Hundes um Zuneigung, als wäre es ein Verrat an Einstein, wenn er Pooka streichelte, und würde Einsteins Tod an der Staupe bedeuten.
Nora hingegen ließ dem Hund die Aufmerksamkeit zuteil werden, die er sich wünschte. Sie sagte sich, wenn sie Pooka gut behandelte, werde es die Götter freuen und sie würden dann Einstein gewogen sein. Ihre Verzweiflung erzeugte in ihr einen Aberglauben, der ebenso heftig war wie der ihres Mannes - wenn auch von völlig anderer Art.
Travis ging auf und ab, saß auf der Sesselkante, den Kopf gesenkt, das Gesicht auf die Hände gestützt, dann wiederum stand er lange Zeit an einem der Fenster und starrte hinaus aber ohne die Straße zu sehen, sondern ganz auf irgendwelche dunklen Visionen konzentriert. Er gab sich die Schuld für das was geschehen war. Und wenn Nora ihm den wahren Sachverhalt klarzumachen versuchte, trug das nicht dazu bei, sein irrationales Schuldgefühl zu verringern.
Den Blick starr auf ein Fenster gerichtet und die Arme an den Leib gepreßt, als fröre er, sagte Travis leise: »Meinst du Keene hat die Tätowierung gesehen?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht nicht.«
»Glaubst du, daß man wirklich eine Beschreibung Einsteins an die Tierärzte verteilt hat? Wird Keene wissen, was die Tätowierung bedeutet?«
»Vielleicht nicht«, sagte sie. »Vielleicht haben wir Verfolgungswahn.«
Aber nach dem, was sie von Garrison gehört hatten, nach all der Mühe, die die Behörden sich gegeben hatten, um ihr davon abzuhalten, eine Warnung an sie weiterzuleiten, wußten sie, daß die Suche nach dem Hund immer noch in vollen-Gange war. Also gab es keinen Grund, von Verfolgungswahn zu reden.
Von zwölf bis zwei schloß Dr. Keene seine Praxis, um zu Mittag zu essen. Er lud Nora und Travis ein, mit ihm in der großen Küche zu essen. Er war Junggeselle und konnte sich selbst versorgen. Seine Kühltruhe enthielt tiefgefrorene Mahlzeiten die er selbst zubereitet und verpackt hatte. Er taute eine Portion Lasagne auf und machte mit ihrer Hilfe drei Portionen Salat zurecht. Das Essen war ausgezeichnet, aber weder Nora noch Travis brachten viel davon hinunter.