Senator George Vest, 1870 Jedesmal, wenn Travis diesen Lobgesang las, erfüllte ihn aufs neue Staunen über Einsteins Existenz. Gab es eine weiter verbreitete Fantasievorstellung der Kinder als die, daß ihre Hunde so klug und so weise wären wie jeder Erwachsene? Und welches Geschenk Gottes würde einen jungen Menschen mehr entzücken als dieses, daß der Hund der Familie imstande war, sich wie ein Mensch mit ihm zu verständigen und Triumphe und Tragödien mit vollem Verständnis ihrer Bedeutung und ihrer Wichtigkeit mit ihm zu teilen? Welches Wunder könnte mehr Freude, mehr Respekt für die Geheimnisse der Natur, größeres Entzücken über die Wunder des Lebens hervorrufen? Irgendwie erzeugte die Vorstellung, daß sich die Persönlichkeit eines Hundes und die Intelligenz des Menschen in einem ein-zigen Geschöpf vereinigten, die Hoffnung auf eine Gattung, so begabt wie die Menschheit, aber edler und wertvoller. Und gab es eine weiter verbreitete Fantasievorstellung der Erwachsenen als die, daß sich eines Tages eine andere intelligente Gattung finden werde, die das weite, kalte Universum mit der Menschheit teilte und damit endlich die unsägliche Einsamkeit und das Gefühl leiser Verzweiflung unserer Rasse linderte? Und konnte irgendein Verlust niederschmetternder sein als der Einsteins, jenes ersten, hoffnungsvollen Hinweises darauf, daß die Menschheit in sich nicht nur den Samen der Größe, sondern der Gottheit trug?
Diese Gedanken, die Travis einfach nicht unterdrücken konnte, erschütterten ihn und ließen ihn qualvoll aufschluchzen. Dann machte er sich Vorwürfe ob seiner Gefühlsduselei und ging in den Korridor hinaus, um Einstein seine Tränen -und die Furcht, die sie vielleicht in ihm hervorrufen würden -zu ersparen.
Nora löste ihn um drei Uhr morgens ab. Sie mußte darauf bestehen, daß er nach oben ging, denn er wollte eigentlich die Praxisräume nicht verlassen.
Erschöpft und dennoch unter Protest ließ Travis sich mit der Behauptung, er würde ohnehin nicht schlafen, ins Bett fallen und schlief ein.
Er träumte davon, daß ihn ein gelbäugiges Ding mit bösartig aussehenden Krallen und einem Alligatormaul verfolgte. Er versuchte Einstein und Nora zu schützen, schob sie vor sich her, drängte sie, wegzulaufen, zu fliehen. Aber irgendwie schaffte es das Ungeheuer, an Travis vorbeizukommen, und dann riß es Einstein in Stücke und ging danach auf Nora los.
Es war der Fluch der Cornells, dem man nicht einfach aus dem Wege gehen konnte, indem man seinen Namen in Samuel Hyatt änderte. Schließlich hörte Travis zu rennen auf, fiel auf die Knie und senkte den Kopf, weil er jetzt, da er Nora und dem Hund Unglück gebracht hatte und ihnen nicht hatte helfen können, sterben wollte. Und dann hörte er, wie das Ding näher kam - klick, klick, klick -, hatte Angst und begrüßte doch den Tod, den das Geräusch ihm verhieß ...
Nora weckte ihn kurz vor fünf Uhr morgens. »Einstein«, sagte sie drängend. »Er hat Zuckungen.«
Als Nora mit Travis in die Praxis kam, fanden sie dort Jim Keene über Einstein gebeugt und mit ihm beschäftigt. Es gab für sie nichts zu tun, außer dem Tierarzt nicht im Wege zu stehen und ihm Platz zum Arbeiten zu lassen.
Sie hielten einander umfangen.
Nach ein paar Minuten richtete sich der Tierarzt auf. Sein Blick verriet Sorge, und diesmal war da nicht sein üblicher Versuch zu lächeln oder ihnen Hoffnung zu machen. »Ich habe ihm zusätzliche Mittel gegen die Zuckungen gegeben. Ich glaube ... ich glaube, jetzt ist er in Ordnung.«
»Ist das jetzt das zweite Stadium?« fragte Travis.
»Vielleicht nicht«, sagte Keene.
»Könnte es sein, daß er Zuckungen hat und trotzdem noch im ersten Stadium ist?«
»Möglich wäre es«, sagte Keene.
»Aber nicht wahrscheinlich.«
»Nicht wahrscheinlich«, nickte Keene. »Aber... nicht unmöglich.«
Staupe im zweiten Stadium, dachte Nora verzagt.
Ihre Arme drückten Travis noch fester an sich.
Zweites Stadium. Gehirnschäden. Encephalitis, Chorea. Hirnschäden.
Travis wollte nicht ins Bett zurück. Er blieb den Rest der Nacht bei Nora und Einstein in der Praxis.
Sie schalteten eine weitere Lampe ein, machten den Raum dadurch etwas heller, aber nicht so hell, daß es Einstein stören konnte, und beobachteten ihn scharf nach Anzeichen darauf, daß die Staupe ins zweite Stadium übergegangen sei: ruckartige Bewegungen, Zucken und die Kaubewegungen, von denen Jim Keene gesprochen hatte.
Travis konnte daraus, daß bis jetzt keine derartigen Symptome aufgetreten waren, keine Hoffnung schöpfen. Selbst wenn Einstein sich im ersten Stadium der Krankheit befinden und sich nichts daran ändern sollte, sah es doch so aus, als würde er sterben.
Am nächsten Tag, am Freitag, dem 3. Dezember, ging es Jim Keenes Helferin noch immer nicht gut genug, um zur Arbeit zu kommen, also halfen Nora und Travis wieder aus.
Bis zum Mittag war Einsteins Fieber noch nicht gefallen.
Aus seinen Augenwinkeln und der Nase trat immer noch eine durchsichtige, gelbliche Flüssigkeit aus. Sein Atem ging nicht mehr ganz so schwer, aber Nora stellte sich in ihrer Verzweiflung die Frage, ob der Atem des Hundes vielleicht nur deshalb leichter klang, weil er sich keine Mühe mehr gab, zu atmen, und dabei war, aufzugeben.
Sie brachte vormittags keinen Bissen hinunter. Sie wusch und bügelte Travis' Kleider und ihre eigenen. Sie hatten zwei von Jim Keenes Bademänteln an, die ihnen zu groß waren. Am Nachmittag herrschte in der Praxis wieder reger Betrieb. Nora und Travis waren die ganze Zeit über in Bewegung, und Nora war froh darüber.
Um dreiviertel fünf - den Augenblick würden sie, solange sie lebten, nie vergessen -, kurz nachdem sie Jim bei der Behandlung eines schwierigen Irish Setter beigestanden hatten, jaulte Einstein zweimal auf seiner Liegestatt in der Ecke auf. Nora und Travis fuhren herum, stöhnten und rechneten mit dem Schlimmsten. Dies war der erste Laut, den Einstein - abgesehen von Winseln - seit seinem Eintreffen in der Praxis von sich gab. Aber der Retriever hatte den Kopf gehoben -das erstemal, daß er die Kraft hatte, ihn zu heben - und sah sie blinzelnd an. Er blickte neugierig in die Runde, als wollte er fragen, wo in aller Welt er sich befinde.
Jim kniete neben dem Hund nieder, und während Travis und Nora sich erwartungsvoll hinten an ihn drängten, untersuchte er Einstein gründlich. »Sehen Sie sich seine Augen an. Sie sind etwas trüb, aber überhaupt nicht mit vorher zu vergleichen. Und der Ausfluß hat auf gehört.« Mit einem feuchten Tuch säuberte Jim das verklebte Fell unter Einsteins Augen und wischte ihm die Nase sauber; auch aus den Nasenlöchern trat kein Ausfluß mehr. Dann maß er mit einem Rektalthermometer Einsteins Temperatur und meinte: »Fällt. Ein ganzes Grad.«
»Gott sei Dank«, sagte Travis.
Und Nora merkte, daß ihre Augen sich wieder mit Tränen füllten.
»Er ist noch nicht überm Berg«, sagte Jim. »Sein Herzschlag ist regelmäßiger, nicht mehr ganz so schnell, aber immer noch nicht gut. Nora, holen Sie eine von den Schüsseln dort drüben und füllen Sie sie mit etwas Wasser.«
Nora ging an den Ausguß und stellte die Schüssel kurz darauf neben dem Tierarzt auf den Boden.