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Den Rest der langen Nacht lag Einstein reglos auf seiner Matratze, in tiefem Schlaf.

Am Samstag hatte Jim Keene seine Praxis nur vormittags geöffnet. Als es Mittag wurde, schloß er den Eingang zur Praxis an der Schmalseite seines großen, behaglichen Hauses ab.

Am Vormittag hatte Einstein ermutigende Anzeichen seiner Genesung gezeigt. Er trank mehr Wasser und verbrachte einige Zeit auf dem Bauch, anstatt schlaff auf der Seite zu liegen. Mit erhobenem Kopf sah er sich interessiert um und nahm das Geschehen in der Praxis in sich auf. Sogar eine Mischung aus rohem Ei und Fleischsoße, die Jim ihm hinstellte, schlabberte er, leerte die Schüssel zur Hälfte und erbrach nachher nicht.

Die intravenösen Infusionen hatte der Arzt völlig abgesetzt. Aber Einstein döste immer noch die meiste Zeit. Und seine Reaktionen auf Travis und Nora waren die eines ganz gewöhnlichen Hundes.

Als sie nach dem Mittagessen mit Jim am Küchentisch saßen und eine Tasse Kaffee tranken, seufzte der Tierarzt und sagte: »Nun, ich glaube, jetzt kann man das nicht weiter hinausschieben.« Er holte ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Innentasche seiner alten, abgetragenen Cordjacke und legte es vor Travis auf den Tisch.

Einen Augenblick dachte Nora, es wäre die Rechnung für seine Dienste. Aber als Travis das Papier auseinanderfaltete, sah sie, daß es ein Flugblatt war, das die Leute ausgeschickt hatten, die Einstein suchten.

Travis ließ die Schultern hängen.

Mit dem Gefühl, ihr Herz falle in einen Abgrund, rutschte Nora näher zu Travis hin, damit sie beide das Blatt lesen konnten. Es trug das Datum der letzten Woche und enthielt eine Beschreibung Einsteins, einschließlich der aus drei Ziffern bestehenden Tätowierung in seinem Ohr, und führte aus, daß der Hund sich wahrscheinlich im Besitz eines Mannes namens Travis Cornell und seiner Frau Nora befinde, die möglicherweise unter einem anderen Namen lebten. Unten auf dem Blatt fanden sich Beschreibung von Nora und Travis sowie ihre Fotos.

»Seit wann wissen Sie es?« fragte Travis.

»Innerhalb einer Stunde, nachdem ich ihn das erste Mal sah, am Donnerstagmorgen. Dieses Flugblatt wird seit sechs Monaten jede Woche mit auf den neuesten Stand gebrachtem Text ausgeschickt und die staatliche Krebsforschungsbehörde hat mich dreimal angerufen, um mich immer wieder daran zu erinnern, daß ich jeden Golden Retriever nach Labortätowierungen untersuchen und einen eventuellen Fund sofort melden soll.«

»Und haben Sie ihn gemeldet?« fragte Nora.

»Bis jetzt nicht. Ich hielt es nicht für notwendig, darüber zu reden, bis wir wüßten, ob er durchkommen würde.«

»Und werden sie ihn jetzt melden?« fragte Travis.

Jim Keenes Hundegesicht nahm einen noch bedrückteren Ausdruck an als sonst, und er sagte: »Nach dem, was das Krebsinstitut mir gesagt hat, war dieser Hund der Mittelpunkt ausnehmend wichtiger Experimente, die möglicherweise zu einem Heilmittel gegen Krebs führen könnten. Die Leute sagen, daß Millionen von Dollar Forschungsmittel umsonst ausgegeben wären, wenn man den Hund nicht findet und in das Labor zurückbringt, um die Forschungen abzuschließen.«

»Das ist alles Lüge«, sagte Travis.

»Lassen Sie mich eines ganz klar sagen«, sagte Jim, beugte sich in seinem Stuhl vor und legte die beiden großen Hände um die Kaffeetasse. »Ich liebe Tiere, mein ganzes Leben ist den Tieren gewidmet. Und Hunde liebe ich mehr als alles andere. Aber ich fürchte, daß ich nicht viel Sympathie für Leute habe, die der Meinung sind, wir sollten alle Tierversuche einstellen, Leute, die glauben, medizinischer Fortschritt, der mithilft, menschliches Leben zu retten, sei es nicht wert, einem Meerschweinchen, einer Katze oder einem Hund etwas anzutun, Leute, die in Labors einbrechen, Tiere stehlen und jahrelange Forschungsarbeiten zunichte machen. Wenn ich an solche Leute denke, dann wird mir übel. Es ist gut und richtig, das Leben zu lieben, es auch in seiner bescheidensten Form zu lieben. Aber solche Leute lieben das Leben nicht - sie verehren es, und das ist heidnisch, ignorant, vielleicht sogar primitiv.« »So ist es gar nicht«, sagte Nora. »Einstein war nie in der Krebsforschung eingesetzt. Das haben die nur verbreitet, um die Wahrheit zu verheimlichen. Das Krebsinstitut ist auch nicht auf der Suche nach Einstein. In Wahrheit will ihn die nationale Sicherheitsbehörde haben.« Sie schaute Travis an und sagte; »Also, was machen wir jetzt?«

Travis lächelte grimmig und sagte: »Nun, ich kann doch Jim hier nicht einfach umbringen, um ihn am Reden zu hindern ... «

Der Tierarzt sah ihn verblüfft an.

»... also denke ich, werden wir ihn überzeugen müssen«, schloß Travis.

»Die Wahrheit?« fragte Nora.

Travis starrte Jim Keene einige Augenblicke lang an und sagte schließlich: »Ja. Sie ist das einzige, was ihn vielleicht davon überzeugt, daß er diesen verdammten Wisch in den Abfall wirft.«

Nora atmete tief ein und sagte dann: »Jim, Einstein ist ebenso klug wie Sie oder ich oder Travis.«

»Klüger, denke ich mitunter«, sagte Travis.

Der Tierarzt starrte sie verständnislos an.

»Machen wir noch eine Kanne Kaffee«, sagte Nora. »Das wird ein langer, langer Nachmittag werden.«

Stunden später, um zehn Minuten nach fünf am Samstagnachmittag, waren Nora, Travis und Jim Keene vor der Matratze, auf der Einstein lag, versammelt.

Der Hund hatte noch einmal etwas Wasser getrunken. Auch er betrachtete sie interessiert.

Travis versuchte sich darüber klarzuwerden, ob seine großen braunen Augen immer noch von jener seltsamen Tiefe und unheimlichen Wachsamkeit waren und so völlig unhündisch wissend blickten wie früher. Verdammt. Er war nicht sicher - und seine Unsicherheit machte ihm Angst.

Jim untersuchte Einstein und stellte fest, daß seine Augen klarer waren, fast normal, und daß seine Temperatur immer noch sank. »Auch die Herztöne hören sich etwas besser an. «

Von der zehnminütigen Untersuchung erschöpft, ließ Einstein sich auf die Seite fallen und gab ein langes, müdes Seufzen von sich. Im nächsten Augenblick war er wieder cinge-schlafen.

»Besonders genial wirkt er nicht gerade auf mich«, sagte der Tierarzt.

»Er ist immer noch krank«, erklärte Nora. »Er braucht noch etwas Zeit, um sich zu erholen, dann wird er Ihnen zeigen, daß alles, was wir Ihnen gesagt haben, stimmt.« »Wann, glauben Sie, wird er wieder auf den Beinen sein?« fragte Travis.

Jim dachte nach und meinte dann: »Morgen vielleicht. Zunächst wird er ziemlich zitterig sein. Aber vielleicht morgen. Wir müssen eben sehen.«

»Wenn er wieder auf den Beinen stehen kann«, sagte Travis, »wenn er seinen Gleichgewichtssinn zurückgewonnen hat und Interesse zeigt, sich herumzubewegen, sollte das auch darauf hindeuten, daß er im Kopf wieder klarer ist. Und dann werden wir einen Test mit ihm machen, um Ihnen zu beweisen, wie klug er ist.«

»Soll mir recht sein«, sagte Jim.

»Und wenn er es beweist«, meinte Nora, »dann werden Sie ihn nicht ausliefern?«

»Ihn an Leute ausliefern, die so etwas wie diesen Outsider geschaffen haben, von dem Sie mir erzählt haben? Ihn an die Lügner ausliefern, die sich diesen Fahndungszettel ausgedacht haben? Nora, für was für einen Menschen halten Sie mich?« »Für einen guten«, sagte Nora.

Vierundzwanzig Stunden später, am Sonntagabend, bewegte Einstein sich torkelnd in Jim Keenes Praxis hierhin und dorthin, als wäre er ein kleiner, alter Mann auf vier Beinen.

Nora rutschte auf den Knien neben ihm auf dem Boden mit und versicherte ihm immer wieder, er sei ein tüchtiger und braver Bursche, ermunterte ihn solcherart, in Bewegung zu bleiben. Jeder Schritt, den er machte, entzückte sie, als wäre er ihr Baby, das das Gehen erlernte. Aber was sie noch weit mehr entzückte, war der Blick, den er ihr ein paarmal zuwarf: ein Blick, der Ärger über seine Schwäche auszudrücken schien, aber zugleich so etwas wie Belustigung, als wollte er sagen: