Noras Chance kam, als sie es am allerwenigsten erwartete.
Als sie neben dem Haus hielt, die Handbremse einlegte und den Motor abschaltete, packte Vince sie und zerrte sie über den Sitz, auf seiner Seite nach draußen, weil das die Seite war, die dem Hinterende des Hauses zugewendet war und von den vorderen Fenstern aus am schwierigsten einzusehen war. Während er aus dem Wagen kletterte und sie an einer Hand hinter sich herzog, schaute er um sich, um sicherzugehen, daß Travis nicht in der Nähe war. Damit beschäftigt, konnte er den Revolver nicht so dicht auf Nora gerichtet halten wie vorher. Während sie über die Sitzbank rutschte - am Handschuhfach vorbei -, ließ sie den Deckel aufklappen und schnappte sich die Pistole, Vince mußte etwas gehört oder gefühlt haben, denn er schwang zu ihr herum - aber da war es bereits zu spät. Sie rammte ihm den Lauf der .38er in den Leib und drückte dreimal schnell hintereinander ab, ehe er seinerseits die Waffe heben und ihr den Schädel wegblasen konnte.
Sein Blick zeigte höchste Bestürzung. Er wurde gegen die Hauswand, nur einen Meter hinter ihm, geschleudert.
Ihre eigene Kaltblütigkeit erstaunte sie. Ein verrückter Gedanke kam ihr: daß niemand gefährlicher sei als eine Mutter, die ihre Kinder beschützte, selbst wenn ein Kind noch ungeboren und das andere ein Hund war. Sie feuerte nochmals, aus nächster Distanz, diesmal auf seine Brust.
Vince fiel mit dem Gesicht voran auf den feuchten Boden.
Sie wandte sich von ihm ab und fing zu rennen an. An der Hausecke wäre sie beinahe mit Travis zusammengestoßen, der in dem Augenblick über das Geländer der Veranda flankte und halb geduckt vor ihr landete, den Uzi-Karabiner in der Hand. »Ich habe ihn getötet«, sagte sie, hörte die Hysterie in ihrer Stimme, kämpfte dagegen an. »Ich habe viermal auf ihn geschossen. Ich habe ihn getötet. Mein Gott!«
Travis richtete sich langsam aus der geduckten Stellung auf, noch verwirrt. Nora schlang die Arme um ihn und drückte den Kopf an seine Brust. Der kalte Regen prasselte auf sie beide nieder, doch Nora spürte Travis' lebende Wärme wie eine Köstlichkeit.
»Wer...«, begann Travis.
Hinter Nora stieß Vince einen schrillen, atemlosen Schrei aus, rollte sich auf den Rücken und feuerte auf sie. Die Kugel traf Travis oben an der Schulter und warf ihn um. Fünf Zentimeter weiter rechts - und sie hätte Noras Kopf getroffen.
Fast wäre auch sie gestürzt, als Travis zu Boden ging, weil sie ihn festgehalten hatte. Aber sie ließ ihn schnell los und rannte nach links, vor den Wagen und aus der Schußlinie. Sie warf rasch einen Blick auf Vince, der mit einer Hand den Revolver hielt und sich die andere an den Leib preßte und aufzustehen versuchte.
Und bei diesem Blick, ehe sie hinter dem Pick-up in Dek-kung ging, hatte sie kein Blut an dem Mann gesehen.
Was ging hier vor? Er konnte unmöglich drei Kugeln in den Bauch und eine in die Brust überlebt haben. Außer er war tatsächlich unsterblich.
Noch während Nora in Deckung ging, hatte Travis sich wieder aufgerappelt und saß jetzt im Schlamm. An ihm konnte man Blut sehen, das ihm von der Schulter über die Brust rann und sein Hemd durchtränkte. Er hatte immer noch die Uzi in der rechten Hand. Als Vince blindlings einen zweiten Schuß abgab, eröffnete Travis das Feuer aus der Uzi. Aber er war nicht besser dran als Vince; der Feuerstoß traf die Hauswand und ließ ein paar Querschläger gegen die Ladebrücke des Pickup prallen. Vergeudete Munition.
Er hörte zu schießen auf. »Scheiße!« Er rappelte sich auf. »Hast du ihn erwischt?« fragte Nora.
»Er ist um die Hausecke entkommen«, sagte Travis und setzte ihm nach.
Vince mutmaßte, daß er sich der Unsterblichkeit nähere, sie beinahe erreicht habe. Er brauchte - höchstenfalls - ein paar weitere Leben. Jetzt, wo er seiner Bestimmung so nahe war, ausgelöscht zu werden - dagegen hatte er Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Wie beispielsweise die neueste und aufwendigste kugelsichere Weste aus Kevlar. Er trug eine unter seinem Pullover, und das war es, was die vier Schüsse aufgehalten hatte, die dieses Miststück auf ihn abgegeben hatte. Die Kugeln hatten sich an der Weste abgeplattet und überhaupt keine Wunde verursacht. Aber, Herrgott, weh hatten sie getan! Der Aufprall hatte ihn gegen die Hauswand geschleudert und ihm den Atem aus den Lungen gepreßt. Er fühlte sich, als hätte er auf dem Amboß eines Riesen gelegen, und jemand habe wiederholt einen Schmiedehammer auf seinen Leib niedersausen lassen.
Während er zusammengekrümmt zur Vorderseite des Hauses humpelte und versuchte, dieser verdammten Uzi zu entkommen, war er sicher, daß ihn im nächsten Augenblick eine Kugel im Rücken treffen würde. Aber irgendwie schaffte er es bis zur Ecke, stieg die Stufen zur Veranda hinauf und gelangte damit aus Cornells Schußlinie.
Vince bereitete es einige Befriedigung, daß er Cornell verwundet hatte, obwohl er wußte, daß die Verletzung nicht tödlich war. Jetzt, da er das Moment der Überraschung verloren hatte, stand ihm ein längerer Kampf bevor. Zum Teufel, die Frau schien fast so gefährlich zu sein wie Comell selbst - eine verrückte Amazone.
Er hätte schwören mögen, daß die Frau etwas von einer furchtsamen Maus an sich hatte, daß es in ihrem Wesen lag, sich zu unterwerfen. Er hatte sie offensichtlich falsch eingeschätzt - und das machte ihn unruhig. Vince Nasco war es nicht gewöhnt, solche Fehler zu machen; Fehler beging ein Mensch niederen Grades, nicht aber ein von der Vorsehung Auserwählter.
Er rannte über die Veranda, überzeugt, Comell sei hinter ihm her, und beschloß, ins Haus zu gehen, statt in Richtung Wald. Sie würden damit rechnen, daß er zu den Bäumen rannte, dort Deckung suchte und seine Strategie neu überdachte. Statt dessen würde er geradenwegs ins Haus eindringen und an einem Punkt in Stellung gehen, von dem aus er die beiden Türen vorn und hinten am Haus sehen konnte. Vielleicht gelang es ihm doch noch, sie zu überrumpeln.
Er kam an einem großen Fenster vorbei, strebte der vorderen Tür zu, als etwas durch das Glas geflogen kam.
Vince stieß einen überraschten Schrei aus und feuerte seinen Revolver ab, aber der Schuß bohrte sich in die Decke -und der Hund prallte hart gegen ihn. Die Waffe flog ihm aus der Hand, er wurde nach rückwärts geworfen. Der Hund klammerte sich an ihm fest, Krallen zerrten an seinen Kleidern, Zähne bohrten sich in seine Schulter. Das Geländer zerbrach, und sie fielen auf den Boden darunter.
Schreiend hämmerte Vince mit seinen großen Fäusten auf den Hund ein, bis der ihn jaulend losließ. Doch jetzt ging er ihm an die Gurgel, und er konnte ihn gerade noch rechtzeitig wegstoßen, um zu verhindern, daß er ihm die Luftröhre aufriß.
Sein geschundener Leib schmerzte immer noch dort, wo die Kugeln sich an der Kevlar-Weste plattgedrückt hatten, aber er rappelte sich auf und taumelte zur Veranda zurück, suchte seinen Revolver - und fand statt dessen Cornell. Er stand auf der Veranda und blickte auf Vince herab.
Vince verspürte eine mächtige Aufwallung von Selbstvertrauen. Er wußte, daß er die ganze Zeit recht gehabt hatte, daß er unbesiegbar war, unsterblich, weil er ohne Furcht in die Mündung der Uzi sehen konnte, ohne die geringste Furcht.
Und deshalb grinste er Cornell an. »Schau mich an. Schau her! Ich bin dein schlimmster Alptraum.«
Cornell sagte: »Nicht im entferntesten«, und eröffnete das Feuer.
In der Küche saß Travis auf einem Stuhl, mit Einstein an seiner Seite, während Nora die Wunde versorgte. Dabei erzählte sie ihm, was sie über den Mann wußte, der sich zu ihr in den Wagen gedrängt hatte.
»Eine wilde Trumpfkarte, mit der keiner rechnen konnte«, sagte Travis. »Wie hätten wir ahnen sollen, daß es ihn gab.« »Hoffentlich ist er die einzige wilde Karte im Spiel.«
Er zuckte zusammen, als Nora Alkohol und Jod über die Wunde goß, und dann noch einmal, als sie sie mit Gaze verband und den Verbandstreifen unter seiner Achselhöhle durchzog. Dann sagte er: »Mach nur nicht zuviel daraus. Die Blutung ist nicht so schlimm. Es ist keine Arterie getroffen.«