Lem starrte ihn eine Weile an, nickte dann und sagte: »Ja. Wenn die schlau sind, denke ich, werden sie genau das tun.« Etwas später am selben Tag, Jim Keene war gerade dabei, das Abendessen zuzubereiten, klingelte das Telefon. Es war Garrison Dilworth, dem Jim zwar nie persönlich begegnet war, den er aber im Laufe der letzten Wochen kennengelernt hatte, als er als Verbindungsmann zwischen dem Anwalt und Travis und Nora aufgetreten war. Garrison rief aus einer Telefonzelle in Santa Barbara an.
»Sind sie schon aufgetaucht?« frage der Anwalt.
»Heute am frühen Nachmittag«, erklärte Jim. »Dieser Tommy Essenby muß ein guter Junge sein.«
»Ja, wirklich nicht schlecht. Aber er ist nicht aus reiner Herzensgüte zu mir gekommen, um mich zu warnen. Er befindet sich in Auflehnung gegen jegliche Autorität. Als sie ihn unter Druck setzten und ihn schließlich dazu brachten, ihnen von dem Telefonat zu erzählen, das ich in jener Nacht aus seinem Haus führte, hat ihm das nicht gepaßt. Und deshalb kam Tommy, ebenso unvermeidbar wie ein Ziegenbock, der mit dem Kopf gegen eine Bretterwand rennt, geradewegs zu mir.«
»Die haben den Outsider mitgenommen.«
»Und was ist mit dem Hund?«
»Travis sagte ihnen, er werde ihnen das Grab nicht zeigen. Er hat ihnen klargemacht, daß es Riesenärger geben würde, wenn sie ihn unter Druck setzten, und daß er das ganze Kartenhaus zum Einsturz bringen würde.«
»Wie geht es Nora?« fragte Dilworth.
»Sie wird das Baby nicht verlieren.«
»Gott sei Dank. Das muß eine große Erleichterung für sie sein.«
2
Acht Monate später, an dem großen Labor-Day-Wochenende im September, trafen sich die Johnsons und die Gaines zu einer Grillparty im Haus des Sheriffs. Den größten Teil des nachmittags spielten sie Bridge. Lem und Karen gewannen öf ter, als sie verloren, was in diesen Tagen ungewöhnlich war, weil Lem nicht mehr mit dem fanatischen Drang, zu gewinnen, an das Spiel heranging, wie das früher einmal sein Stil gewesen war.
Er war im Juni aus der NSA ausgetreten. Seither lebte er von den Zinsen der Erbschaft, die ihm vor langer Zeit sein Vater hinterlassen hatte. Im nächsten Frühjahr hatte er vor, eine neue Tätigkeit aufzunehmen, irgendein kleines Geschäft, in dem er sein eigener Herr war und selbst über seine Zeit bestimmen konnte.
Als dann später am Nachmittag die Frauen in der Küche Salat machten, standen Lem und Walt am Grill und kümmerten sich um die Steaks.
»Dann kennt man dich in der Agency immer noch als den Mann, der die Banodyne-Krise verpatzt hat?«
»So wird man mich bis in alle Ewigkeit kennen.«
»Aber deine Pension kriegst du trotzdem?« fragte Walt.
»Nun, schließlich habe ich dreiundzwanzig Jahre für die geschuftet.«
»Trotzdem kommt es mir einfach nicht richtig vor, daß einer den größten Fall des ganzen Jahrhunderts versaut und mit sechsundvierzig mit voller Pension einfach das Weite sucht.« »Drei Viertel meiner Pension.«
Walt atmete tief ein und genoß den duftenden Rauch, der von den Steaks aufstieg. »Trotzdem. Ich möchte wissen, was aus unserem Land geworden ist. In weniger liberalen Zeiten hätte man Versager wie dich ausgepeitscht und zumindest an den Pranger gestellt.« Er holte noch einmal tief Luft und sagte:
»Erzähl mir noch einmal, wie das in der Küche bei den beiden war.«
Lem hatte es schon hundertmal erzählt, aber Walt wurde nie müde, es immer wieder zu hören. »Nun, das ganze Haus war wie aus dem Schächtelchen. Richtig blitzsauber. Und Cornell und seine Frau sind auch selber äußerst gepflegt. Und dann sagen sie mir, der Hund sei seit zwei Wochen tot, tot und begraben. Cornell kriegt seinen Wutanfall, zerrt mich am Hemd aus dem Stuhl und funkelt mich an, als würde er mir gleich den Kopf abreißen. Als er mich losläßt, ziehe ich mir die Krawatte zurecht, glätte mein Hemd ... und schau' an meiner Hose runter, irgendwie gewohnheitsmäßig - da sehe ich diese goldenen Haare. Hundehaare. Von einem Retriever, verdammt. Kann es nun wirklich sein, daß diese ordnungsliebenden Menschen, ganz besonders, wo sie doch die Zeit totschlagen und sich selbst von der Tragödie ablenken müssen, wirklich nicht die Zeit haben, in mehr als zwei Wochen das Haus sauberzumachen?«
»Deine ganzen Hosenbeine waren voller Haare«, sagte Walt. »Hunderte von Haaren.«
»Als ob der Hund gerade noch dagesessen hätte, Minuten, bevor du reinkamst.«
»So, als hätte ich mich, wenn ich zwei Minuten eher gekommen wäre, auf den Hund selber gesetzt.«
Walt drehte die Steaks auf dem Grill um. »Du bist ein Mann mit ausgezeichneter Beobachtungsgabe, Lem, und damit hättest du in deinem Beruf sehr weit kommen müssen. Ich begreife einfach nicht, wie du es bei all deinen Talenten fertiggebracht hast, den Banodyne-Fall so gründlich zu verpatzen.«
Sie lachten beide, wie immer.
»Einfach Glück, schätze ich«, sagte Lem, wie immer, und dann lachte er wieder.
3
Als James Garrison Hyatt am 28. Juni seinen dritten Geburtstag feierte, erwartete seine Mutter sein künftiges Schwesterchen.
Sie feierten eine Party in dem Holzhaus an den bewaldeten Hängen über dem Pazifik. Weil die Hyatts vorhatten, bald in ein neues, größeres Haus ein Stück weiter oben an der Küste zu ziehen, sollte es eine unvergeßliche Party werden, nicht nur zur Feier des Geburtstages, sondern auch als Abschied von dem Haus, das erste Zuflucht der Familie gewesen war.
Jim Keene kam mit Pooka und Sadie, seinen zwei schwarzen Labradors, und seinem jungen Golden Retriever Leonardo, der gewöhnlich Leo gerufen wurde, aus Carmel herauf.
Ein paar enge Freunde kamen aus dem Immobilienbüro, wo Sam - Travis, wie ihn alle nannten - in Carmel Highlands arbeitete, und aus der Galerie, wo Noras Gemälde ausgestellt und verkauft wurden. Auch diese Freunde brachten ihre Retriever, alles Nachkommen des zweiten Wurfs von Einstein und seiner Gefährtin Minnie.
Nur Garrison Dilworth fehlte. Er war im vergangenen Jahr im Schlaf gestorben.
Sie hatten einen wunderschönen Tag, verbrachten herrliche Stunden, nicht nur, weil sie Freunde waren und es ihnen Freude bereitete, zusammen zu sein, sondern auch deshalb, weil sie ein geheimes Wunder miteinander teilten, eine Freude, die sie für alle Zeiten zu einer weitverzweigten Familie verband. Auch die Angehörigen des ersten Wurfes, die wegzugeben Travis und Nora einfach nicht ertragen hätten und die ebenfalls in dem Holzhaus lebten, waren anwesend: Mickey, Donald, Daisy, Huey, Dewey und Louie.
Die Hunde hatten sogar noch mehr Spaß als die Leute. Sie tollten auf dem Rasen herum, spielten im Wald Verstecken und sahen sich im Wohnzimmer am Fernseher Videos an.
Der Hundepatriarch beteiligte sich an einigen der Spiele, verbrachte aber den größten Teil seiner Zeit mit Travis und Nora und hielt sich wie üblich dicht bei Minnie. Er hinkte -das würde er den Rest seines Lebens tun -, weil sein rechtes Hinterbein von dem Outsider brutal verstümmelt worden war und wohl überhaupt nicht mehr zu benutzen gewesen wäre, wenn sein Tierarzt sich nicht ganz besondere Mühe gegeben hätte.
Travis fragte sich oft, ob der Outsider Einstein mit Gewalt gegen die Wand des Kinderzimmers geschleudert und dann angenommen hatte, er wäre tot. Vielleicht auch hatte das Ding in dem Augenblick, da das Leben des Retrievers ihm anheimgestellt war, in sich einen Tropfen Barmherzigkeit gefunden, den seine Schöpfer nicht in ihn hineingeplant hatten, der irgendwie aber dennoch dagewesen war. Vielleicht erinnerte er sich an das eine Vergnügen, das er und der Hund im Labor geteilt hatten - die Trickfilme. Und indem er sich daran erinnerte, hatte er in sich vielleicht zum erstenmal die schwache Möglichkeit, vielleicht doch wie andere lebende Wesen zu sein, gesehen. Und indem er diese Gemeinsamkeit erkannte, könnte er in diesem Augenblick Einstein vielleicht nicht so einfach töten. Schließlich hätte er ihm mit seinen mächtigen Krallen mühelos den Leib aufschlitzen können.