»Vielleicht nächstes Jahr«, sagte sie. An der mahagonigetäfelten Tür wurde leise geklopft. Hotelangestellte in weißen Jacketts und mit Sträußchen im Knopfloch schoben einen ratternden Servierwagen aus Sandelholz in den Raum. Austern, Shrimps, eisgekühlter Champagner. Greta ging ins Schlafzimmer hinüber, um sich umzuziehen. Die Einheimischen machten sich lautlos am leinengedeckten Tisch zu schaffen, zündeten den Kerzenleuchter an, öffneten die Flasche, füllten die Gläser. Oscar geleitete sie geduldig auf den Flur. Dann schaltete er das Licht aus.
Greta kam zurück und nahm den Kerzenleuchter in Augenschein. Sie trug ein dunkelbraunes Spitzenkleid aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg und eine federbesetzte Gesichtsmaske. Die Maske gefiel ihm ausnehmend gut. Selbst mitten im Mardi Gras verlor sie nicht ihre Faszination.
»Schokotrüffel?« meinte sie lüstern.
»Hab ich nicht vergessen. Später.« Oscar hob das Champagnerglas, bewunderte die goldenen Bläschen, setzte es wieder ab.
»Du trinkst noch immer keinen Alkohol, nicht wahr?«
»Nur zu. Ich bewundere ihn bloß. Mit einem Auge.«
»Ich nippe mal eben«, sagte sie und leckte sich unter dem federbesetzten unteren Rand der Maske über die breite Oberlippe. »Ich habe ein kleines Problem mit der Selbstbeherrschung…«
»Warum solltest du dich zügeln? Es ist Mardi Gras.«
Sie setzte sich. Sie probierten vom Shrimpcocktail. Es gab auch unglaublich scharfe kleine Meerrettichscheiben. »Hab ich dir schon erzählt, dass ich mich einer Zellreinigung unterzogen habe?«
»Du machst Witze.«
»Ich hab’s gehasst, weißt du. Weil ich mich nicht selbst dazu entschlossen habe. Außerdem hatte ich hohen Blutdruck, und es bestand die Gefahr eines Schlaganfalls. Deshalb hab ich das Gehirngewebe reinigen lassen.«
»Und, wie war’s?«
»Es fühlte sich alles ganz normal an. Sehr flach. Als lebte man in einer Schwarz-weiß-Welt. Ich musste den früheren Zustand wiederherstellen, es macht mir nichts mehr aus, ich musste einfach.« Sie legte ihre langen, bleichen Hände auf den Tisch. »Wie steht’s mit dir? Kannst du aufhören?«
»Ich will nicht aufhören. Ich find’s gut.«
»Es ist schlecht für dich.«
»Nein, ich liebe die Zweigleisigkeit. Das gefällt mir wirklich an diesem kleinen Geschenk oder Gebrechen. All die anderen Beschwernisse, die elenden kleinen Vorurteile, die Rassenprobleme, das ethnische Problem… Es ist nicht so, dass dies alles verschwinden würde, weißt du. Das wäre zu viel erwartet. Diese Probleme werden niemals verschwinden, aber die neuen Probleme drängen die alten in den Hintergrund. Außerdem bin ich jetzt multitaskingfähig. Ich kann wirklich zwei Dinge gleichzeitig tun. Ich bekomme viel mehr geschafft. Ich kann fulltime an einer Sache arbeiten, während ich mich fulltime für ihre Legalisierung einsetze.«
»Dann verdienst du also wieder Geld.«
»Ja, das habe ich vor.« Oscar seufzte. »Das ist uramerikanisch. Das ist mein einziger Weg in die Legitimität. Mit echtem Geld kann ich Kandidaten finanzieren, Prozesse führen, Stiftungen gründen. Es hat keinen Zweck, uns mit unseren Bären und Tambourins am Rand der Gesellschaft herumzudrücken und für ein paar Almosen zu tanzen. Die Hirnforschung wird sich in Kürze zu einer Industrie weiterentwickeln. Zu einer massiven, erderschütternden, neuen amerikanischen Industrie. Irgendwann wird es die größte Industrie überhaupt sein.«
»Du willst meine wissenschaftlichen Erkenntnisse industriell nutzen? Obwohl es derzeit illegal ist, obwohl die Leute es für gefährlich halten, sich damit überhaupt zu beschäftigen? Wie stellst du dir das vor?«
»Du kannst mich nicht daran hindern.« Oscar senkte die Stimme. »Niemand kann mich hindern. Die Entwicklung wird ganz allmählich vonstatten gehen, ganz behutsam, so still und leise, dass man zunächst gar nichts davon mitbekommt. Bloß ein behutsames Lüften des Schleiers. Ganz sachte, ganz subtil. Ich werde den Schleier vom Reich des abstrakten Wissens heben und dieses in die reale, schmutzige Welt des Schweißes und der Hitze verpflanzen. Es wird nicht schmutzig und gemein sein, sondern schön und unvermeidbar erscheinen. Die Menschen werden es haben wollen, sie werden danach verlangen. Irgendwann werden sie darum flehen. Und am Ende, Greta, wird es vollständig mir gehören.«
Ein langes Schweigen. Greta fröstelte heftig auf ihrem Stuhl, und die Federmaske rutschte herab. Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. Sie nahm eine silberne Muschelgabel in die Hand, probierte von dem reglosen grauen Klecks auf ihrem Teller und legte die Gabel wieder weg. Dann blickte sie ihn forschend an. »Du bist älter geworden.«
»Ich weiß.« Er lächelte. »Soll ich die Maske wieder aufsetzen?«
»Geht es in Ordnung, sich wegen dir Sorgen zu machen? Das tue ich nämlich.«
»Das geht in Ordnung, aber nicht während des Mardi Gras.« Er lachte. »Du möchtest dir Sorgen machen? Mach dir Sorgen um die Leute, die mir in die Quere kommen.« Er schluckte eine Muschel.
Erneutes langes Schweigen. Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt. Greta kannte alle möglichen Arten des Schweigens. »Wenigstens lässt man mich jetzt wieder im Labor arbeiten«, murmelte sie. »Es steht nicht zu befürchten, dass man mich wieder mit einer leitenden Position betrauen wird. Ich wünschte nur, ich wäre besser in meiner Arbeit. Das ist das Einzige, was ich bedaure. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit und wäre besser.«
»Aber du bist von allen die Beste.«
»Ich werde alt, das spüre ich. Ich spüre, wie mein Verlangen schwindet, dieses verzehrende Gift. Ich wünschte bloß, ich wäre besser, Oscar, mehr nicht. Man sagt, ich sei ein Genie, aber ich bin immerzu unzufrieden. Daran kann ich nichts ändern.«
»Das muss schlimm sein. Soll ich dir ein Privatlabor besorgen, Greta? Du hättest mehr Freiraum, du könntest es selber leiten. Vielleicht würde dir das helfen.«
»Nein, danke.«
»Ich könnte dir ein hübsches Labor bauen. An einem Ort, wo es uns beiden gefällt. Wo du dich konzentrieren kannst. Vielleicht in Oregon.«
»Ich weiß, dass du ein Institut bauen könntest, aber ich will dir nicht auf der Tasche liegen.«
»Du bist so stolz«, sagte er traurig. »Es wäre machbar. Wir könnten heiraten.«
Sie schüttelte ihren maskierten Kopf. »Wir werden nicht heiraten.«
»Wenn du eine Woche Zeit für mich hättest, eine Woche im Vierteljahr. Das ist nicht viel verlangt. Vier Wochen im Jahr.«
»Vier ganze Wochen im Jahr würden wir einander nicht ertragen. Und zwar weil wir beide besessen sind. Du hast keine Zeit für eine richtige Ehe, und ich auch nicht. Und selbst wenn wir heirateten, selbst wenn es klappen würde, dann würdest du doch bloß mehr wollen.«
»Ja, schon. Das stimmt. Natürlich würde ich mehr wollen.«
»Ich sag dir, wie es laufen würde, denn ich habe das schon erlebt. Du wärst der Hausmann, Oscar. Ich würde meine Achtzig-Stunden-Woche abreißen, und du würdest dich um mich kümmern, wenn ich denn mal da bin. Vielleicht könnten wir Kinder adoptieren. Ich würde niemals Zeit für deine Kinder haben, aber meine Schuldgefühle wären ausreichend groß, um ihnen Weihnachtsgeschenke zu besorgen. Du würdest dich ums Haus kümmern und ums Geld und vielleicht um den Ruhm, und du würdest für uns kochen und wer weiß noch was tun. Wahrscheinlich würdest du auf diese Weise dein Leben erheblich verlängern.«
»Du glaubst, das gefiele mir nicht«, sagte er. »Ich fände das gar nicht so schlecht. Es klingt authentisch. Das Problem dabei ist, es ist unmöglich. Ich kann keine Familie zusammenhalten. Ich kann nicht sesshaft werden. Ich habe noch nie erlebt, dass es funktioniert hätte. Seit vergangenem August hatte ich Affären mit drei verschiedenen Frauen. Früher sind die Frauen aufeinander gefolgt. Damit komme ich nicht mehr klar. Jetzt laufen die Affären parallel nebeneinander her. Dir den Ring und den Brautschleier zu geben, würde mich nicht ändern. Das ist mir mittlerweile klar, ich muss das zugeben. Ich habe keinen Einfluss darauf, ich kann es nicht kontrollieren.«