»Ich hasse deine Frauen«, sagte sie. »Andererseits stelle ich mir vor, wie sie für mich empfinden müssen, wenn sie denn überhaupt von mir erfahren. Das ist zumindest ein kleiner Trost.«
Er zuckte zusammen.
»Du hast mich nicht glücklich gemacht. Du hast mich kompliziert gemacht. Ich bin sehr kompliziert geworden. Jetzt fliege ich zum Mardi Gras, um mich mit meinem Geliebten zu treffen.«
»Ist das so schlimm?«
»Ja, es ist schlimm. Ich empfinde jetzt so viel Schmerz. Andererseits fühle ich mich viel wacher als zuvor.«
»Glaubst du, wir haben eine gemeinsame Zukunft, Greta?«
»Ich bin nicht die Zukunft. Dort draußen ist eine Frau, die sich herausgeputzt hat und stark betrunken ist. Heute wird sie mit ihrem Mann schlafen, und wenn sie klug sein sollte, wird sie sagen: Ach, was soll’s. Sie wird beim Mardi Gras schwanger werden. Sie ist die Zukunft. Ich bin nicht die Zukunft, ich war nie die Zukunft. Ich bin nicht mal die Wahrheit. Ich bin bloß eine Tatsache.«
»Ich glaube, ich bin doch ein Mensch«, sagte Oscar, »denn ich nehme die Fakten nur häppchenweise auf.«
»Wir werden niemals heiraten, aber irgendwann werden wir das hinter uns gelassen haben. Dann könnte ich mit dir am Strand Spazierengehen. Etwas für dich empfinden, einfach als Mensch, auf eine stillere, einfachere Weise. Wenn ich etwas derartiges zu geben habe, dann am Ende meines Lebens. Wenn ich alt bin, wenn der Ehrgeiz schwindet.«
Oscar erhob sich und ging zur Glastür. Ihre Bemerkung schmerzte ihn, denn er war sich ganz sicher, dass es genauso kommen würde, später, wenn sie einmal alt wäre. Weisheit und Gemeinsamkeit. Aber sie würde dies mit jemand anderem erleben. Nicht mit ihrem Geliebten. Sondern mit einem zu ihr aufblickenden Doktoranden oder vielleicht einem Biografen. Bestimmt nicht mit ihm. Er trat auf den Balkon, schob die Manschetten hoch und stützte sich auf das prächtige schmiedeeiserne Geländer.
Eine große Festgruppe arbeitete sich unter der blauweißen Fahne einer nicht mehr existierenden multinationalen Bank systematisch die Bourbon Street entlang. Die grimmig dreinschauenden Feiernden trugen nüchterne dreiteilige Maßanzüge und polierte Schuhe. Die meisten derartigen Gruppen schleuderten billige Perlen unters Volk, die Prolos aber ließen sich nicht lumpen: sie warfen mit Bargeld.
»Sieh dir mal diese Typen an!« rief Oscar.
Greta trat zu ihm. »Wie ich sehe, tragen sie Ferienkleidung.«
Eine an einem Angelgewicht befestigte Fünf-Dollar-Note kam von der Straße hochgeflogen und prallte von Oskars Schulter ab. Er hob sie auf. Es war tatsächlich richtiges Geld. »So etwas sollte man denen nicht gestatten. Das könnte einen Tumult auslösen.«
»Sei kein Griesgram. Ich fühle mich jetzt besser. Los, bringen wir das Bett zum Einsturz.«
Sie zog ihn ins Schlafzimmer. Die schwüle Luft vibrierte vor erotischer Spannung. »Soll ich die Maske aufbehalten?«
Er zog das Jackett aus. »Aber ja. Die Maske passt zu dir.«
Er machte sich besonders umsichtig und einfallsreich ans Werk. Während der langen Trennung hatte er genügend Zeit gehabt, sich diese Begegnung vorzustellen. Er hatte ein erotisches Schema mit mehreren Ebenen und einer Reihe variabler Subroutinen ausgetüftelt. Die Laken waren schweißdurchtränkt, und Gretas Halsadern traten hervor. Mit einem erstickten Schrei riss sie sich die Maske von den Augen, sprang aus dem Bett und eilte hinaus.
Er folgte ihr voller Besorgnis. Sie wühlte hektisch in ihrer Handtasche, zog einen Bleistiftstummel hervor.
»Was…« setzte er mit sanfter Stimme an.
»Pst!« Sie kritzelte etwas auf die Rückseite des New-Orleans-Reiseführers. Oscar legte sich einen Baumwollbademantel um die Schultern, schlüpfte in die Pantoffeln und trank eine halbe Flasche kaltes Mineralwasser. Als das Pulsieren in seinen Schläfen nachgelassen hatte, trat er wieder auf den Balkon.
Auf der Bourbon Street spielten sich erstaunliche Szenen ab. Der in einzelne Segmente unterteilte Balkon erstreckte sich über die ganze Länge des kleinen Hotels. Vier Frauen und drei weitere Männer hielten sich darauf auf. Zwischen den Zuschauern und der Menschenmenge auf der Straße fand ein bizarres Wechselspiel statt.
Frauen entblößten im Austausch gegen Plastikperlen vor Fremden ihre Brüste. Männer brüllten mit heiserer Stimme und verteilten Perlen. Die Frauen auf der Straße entblößten sich vor den Männer auf den Balkons, und die Frauen auf den Balkons entblößten sich vor den Männern auf der Straße. Es wurde nicht gefummelt, es gab keine Anmache; Kameras blitzten, und grellbunte Halsketten flogen, doch bei alldem galt ein rituelles Rührmichnichtan. Das Ganze wirkte eigentümlich alt und wunderlich, etwa wie untergehakte Tänzer bei einem Square dance.
Ein hübscher Rotschopf auf dem Balkon gegenüber quälte die Schar seiner Bewunderer. Die Frau küsste ihren Freund, einen grinsenden Betrunkenen im Teufelskostüm, dann beugte sie sich vor, ließ ihre zahlreichen goldenen, grünen und purpurfarbenen Halsketten über das Geländer baumeln und zupfte neckisch am Saum ihrer Bluse. Die Männer auf der Straße johlten lüstern und brüllten im Chor ihr Begehren hinaus.
Als sie die Menge bis zur Raserei gereizt hatte, schlang sie sich die Perlenketten um die Schultern und entblößte den Oberkörper. Das Warten hatte sich gelohnt. Ganz langsam liebkoste die Fremde ihre eine Brustwarze. Oscar fühlte sich wie ein Fisch am Haken.
Er trat wieder ins Hotelzimmer. Greta hatte ihre Kritzelei beendet. Ihr Gesicht war blass und nachdenklich.
»Was hattest du?« fragte er.
»Das war eigenartig.« Sie legte den Bleistift weg. »Ich habe nachgedacht. Ich kann während des Sex über Neurologie nachdenken.«
»Tatsächlich?«
»Also, es ist eher so, als träumte ich davon. Du hast mich sehr erregt, und ich war kurz vorm Kommen… du weißt doch, wie wundervoll es sein kann, unmittelbar vor dem Höhepunkt zu verweilen? Und gleichzeitig habe ich intensiv über die Wellenausbreitung in den Zellen des Stütz- und Hüllgewebes nachgedacht. Dann begriff ich plötzlich, dass die übliche Story mit den Kalziumwellen in der Neuroglia falsch ist, und ich stand kurz davor, ganz kurz davor, und da blieb ich stecken. Ich blieb kurz davor stecken. Ich konnte nicht loslassen und konnte nicht richtig kommen, und das Lustgefühl wurde immer intensiver. Ein Tosen war in meinem Kopf, mir wäre beinahe schwarz vor Augen geworden. Und dann wurde es mir mit einem Mal klar. Ich musste aufspringen und es notieren.«
Er trat an den Tisch. »Und wie funktioniert’s?«
»Ach«, sie schob den Zettel weg, »das ist bloß so eine Idee. Ich meine, jetzt, da ich es niedergeschrieben habe, erscheint es mir unmöglich, dass sich ein neurogliales Synzytium dergestalt verhält. Das ist ein kluger Gedanke, aber er stimmt nicht mit den Tracer-Untersuchungen überein.« Sie seufzte. »Es hat sich so gut angefühlt. Als es passierte. Mein Gott, war das gut.«
»Das wirst du nicht jedesmal erleben.«
»Nein. So viele gute Ideen habe ich nicht mehr.« Sie schaute hoch, die zerbissenen Lippen noch ganz geschwollen. »Denkst du dabei nicht auch an etwas anderes?«
»Doch, schon.«
»Und woran?«
Er zog sie ein wenig näher. »An andere Dinge, die ich mit dir anstellen könnte.«
Sie legten sich wieder ins Bett. Diesmal hatte sie einen Blackout. Er bemerkte nicht, wie sie das Bewusstsein verlor, denn ihr Körper bewegte sich noch immer rhythmisch, doch sie verdrehte die Augen. Als sie ihn ansprach, hatte er seinerseits einen Blackout.
»Bist du bei mir?« flüsterte sie blicklos.
»Ja, ich bin da«, keuchte er. Sie hatten sich miteinander vermischt, auf einer so tiefen, dem Bewusstsein unzugänglichen Ebene, dass sie kaum imstande waren, sich zu manifestieren. Aber sie hatten einen guten Moment gewählt, um die zentrale Bühne des Geistes in Beschlag zu nehmen. Ihre schwitzenden Leiber kamen zur Ruhe, verschmolzen miteinander in einem Zustand tiefer Entspannung. Auf einmal war alles ganz einfach, ein weites, mondbeschienenes Meer der Sexualität, das an eine ferne Küste schwappte. Sie atmeten im gleichen Rhythmus.