»Phänomenal.«
»Alcotts Blutzuckerwerte im Netz zu veröffentlichen – das war brillant. Die Leute loggen sich rund um die Uhr ein, um ihm beim Hungern zuzusehen! Bei Lorena das Gleiche. Lorena hat große Zustimmung unter den Frauen. Seit Mittwoch war sie auf zehn Glamour-Sites vertreten. Die Leute lieben ihre Wasser-und-Brot-Diät, sie können einfach nicht genug davon kriegen!«
»Wie ist die Lage bei der Basis? Haben die Notstandsausschüsse wegen der Luftwaffenbasis schon was Sinnvolles unternommen?«
»Oh«, sagte Moira, »so weit bin ich noch nicht… Ich… äh… ich dachte, Audrey würde sich darum kümmern.«
»Okay«, brummte Oscar.
Moira führte die Fingerspitzen ans gepuderte Kinn. »Alcott… er ist wirklich etwas Besonderes. Ich habe schon viele Reden von ihm gehört, aber der Auftritt im Krankenhauspyjama, mit dem Apfelsaft… Er hat bloß neunzig Sekunden gedauert, aber das war ein Drama, das ging unter die Haut, pures Gold. Die Aufrufe der Standardsite waren zunächst nicht so berauschend, aber das Chat- und Downloadaufkommen war gewaltig. Alcott positioniert sich weit hinter der ideologischen Frontlinie. Vom Rechten Traditionsblock hatte er noch nie eine solche Zustimmung, aber selbst die schwenken jetzt um. Wissen Sie was, wenn Wyoming nicht gerade in Flammen stünde, wäre das die politische Story. Jedenfalls für diese Woche.«
»Wie läuft es eigentlich in Wyoming?«
»Ach, das Feuer ist viel schlimmer geworden. Der Präsident ist dort.«
»Der alte oder Two Feathers?«
»Two Feathers natürlich. Für den alten interessiert sich keine Sau mehr, der ist erledigt, eine lahme Ente. Ich weiß, Two Feathers ist noch nicht vereidigt, aber die Leute können dem Durchhänger nach der Wahl nichts abgewinnen. Die Leute haben es halt eilig.«
»Stimmt«, sagte Oscar kurz angebunden. Moira erzählte ihm da nichts Neues.
»Oscar…« Moira blickte ihn flehentlich an. »Soll ich ihn bitten, mich nach Washington mitzunehmen?«
Oscar breitete schweigend die Arme aus.
»Er braucht mich. Er braucht eine Sprecherin.«
»Das kann ich nicht entscheiden, Moira. Sie müssten sich an seinen Stabschef wenden.«
»Könnten Sie bei Leon Sosik nicht ein gutes Wort für mich einlegen? Sosik scheint Sie sehr zu mögen.«
»Darüber reden wir noch«, sagte Oscar.
Die Bustür wurde aufgerissen. Norman-der-Praktikant streckte seinen zerzausten Kopf ins Innere und rief: »Das Essen ist fertig!«
»Oh, prima!« sagte Moira und sprang auf. »Exotische Cajun-Meeresfrüchte, gut, gut, gut!«
Oscar setzte den Hut auf, zog das Jackett an und folgte ihr nach draußen. Fontenot teilte voller Genugtuung große Portionen brauner Brühe aus. Oscar stellte sich hinten an. Man reichte ihm einen Pappteller und einen biologisch abbaubaren Löffel.
Oscar besah sich die heiße, ölige Suppe und dachte sorgenvoll an Bambakias. Das PR-Team in Cambridge hatte mit der Überwachung des hungernden Senators unbestreitbar gründliche Arbeit geleistet: Blutdruck, Puls, Körpertemperatur, Kalorienverbrauch, Darmkollern, Speichelfluss – an der Authentizität des Hungerstreiks gab es nicht den geringsten Zweifel. Der Körper des Senators war zu einer öffentlichen Angelegenheit geworden. Wann immer Bambakias einen Schluck Apfelsaft trank, schlugen im ganzen Land die Monitoranzeigen aus.
Oscar setzte sich neben Negi an einen Picknicktisch. Er musterte den Inhalt seines randvollen Löffels. Er hatte ernsthaft in Betracht gezogen, heute abend nichts zu essen. Das wäre eine noble Geste gewesen. Aber das sollte ruhig jemand anders machen.
»Blutgefäßdichtung in einem Teller«, bemerkte Negi voller Wonne.
Oscar kostete von der Suppe. »Dafür lohnt es sich zu sterben«, meinte er.
»Ich bin so alt«, klagte Negi und pustete auf den Löffel. »Damals, als ich noch Tattoos und Piercings hatte, setzten einem die Leute zu, wenn man Fett aß und sich sinnlos betrank. Da kannte man natürlich noch nicht die schreckliche Wahrheit über die Vergiftung mit Psdeudo-Östrogen.«
»Tja«, meinte Oscar kameradschaftlich, »zumindest haben die Seuchenkatastrophen mit diesem Diäten- und Fitnesswahn Schluss gemacht.«
»Reichen Sie mir mal das Brot, Norman«, sagte Rebecca. »Ist das richtige Butter? Gute Butter? Wow!«
Ein Leichtflugzeug flog über sie hinweg. Der winzige Motor knatterte energisch, was sich anhörte, als trommelte jemand mit den Fingernägel auf einer Snaredrum herum. Das Flugzeug machte einen erschreckend zerbrechlichen Eindruck. Mit der gespenstisch anmutenden, computerdesignten Auftriebsoberfläche ähnelte es dem Papierflugzeug eines Kindes, zusammengebastelt aus ausgeschnittenen Papierteilen, Eisstielen und Klebeband. Die Fügelränder liefen in fedrige Bänder und lange Drachenschwänze aus. Man hatte den Eindruck, das Fluggerät werde durch schiere Willenskraft in der Luft gehalten.
Dann tauchten drei ähnliche Flugzeuge auf und glitten knapp über die Baumwipfel hinweg. Sie wirkten wie Raubvögel, die Ausschau hielten nach Forellen. Die Piloten trugen Handschuhe und Schutzbrillen und waren so vermummt, dass sie menschlichen Sackballen ähnelten.
Einer der Piloten löste sich aus der Formation, das Flugzeug senkte sich ab wie ein herabfallendes Blatt, dann umkreiste es den am Straßenrand abgestellten Bus. Es war, als würde man von einem Heuballen umschwirrt. Der Pilot winkte ihnen zu, machte mit der beschuhten Hand die Geste des Essens, dann entfernte er sich in östlicher Richtung.
»Luftnomaden«, sagte Fontenot blinzelnd.
»Sie fliegen nach Osten«, bemerkte Oscar.
»Green Huey ist bei den Freizeitgewerkschaften sehr beliebt.« Fontenot setzte den Teller ab, erhob sich und ging zum Bus, um nach den Geräten zu sehen. Er machte ein Gesicht, als wollte er ernstlich arbeiten.
Oscars Mannschaft wandte sich wieder dem Essen zu. Alle aßen nun schweigend und mit größerer Konzentration. Niemand brauchte das Offensichtliche auszusprechen, nämlich dass bald weitere Nomaden eintreffen würden.
Fontenot kam aus dem Bus, wo er sich Verkehrsmeldungen angehört hatte. »Kann sein, dass wir bald weiter müssen«, sagte er. »Die Regulatoren haben sich im Alabama-Cushatta-Reservat gesammelt und kommen jetzt hier durch. Die hiesigen Prolos sind nicht unbedingt harmlos.«
»Also, wir sind hier ebenfalls fremd, wissen Sie«, sagte Negi. Negi hatte lange Zeit auf der Straße gelebt, damals, als die Obdachlosen noch keine Handys und Laptops gehabt hatten.
Zehn Minuten später trafen zwei Nomadenscouts mit einem Motorrad mit Beiwagen ein. Sie waren gekleidet, als ob es Winter wäre. Sie trugen Wickelröcke, gestreifte Ponchos und weite, grobe Umhänge, die mit prachtvollen Firmenlogos des zwanzigsten Jahrhunderts bestickt waren. Ihre Haut glänzte von einer dicken, isolierenden Fettschicht. Die Beine steckten bis zur Wadenmitte in einer stiefelartigen Plastiksubstanz, die nach PVC aussah.
Die Scouts hielten an und kamen herüber. Es waren schweigsame, stolze Leute, die ihre Netzkameras dabeihatten. Der Fahrer verzehrte gerade einen großen, quadratischen Brocken Kunstnahrung, der aussah, als bestünde er aus komprimiertem Luzernenmus.
Oscar winkte sie näher. Offenbar gehörten sie nicht den legendären Regulatoren an. Dies waren texanische Straßenwanderer, in ihrer Art weit weniger fortschrittlich als die Prolos aus Louisiana. Diese Leute sprachen bloß spanisch. Das Spanisch, das Oscar als Kind erlernt hatte, war mehr als bloß eingerostet, und Donna Nunez war nicht in der Nähe. Dafür verstand Rebecca Pataki ein paar Brocken Spanisch.
Die Nomaden äußerten sich bewundernd über den Wahlkampfbus. Sie boten ihnen Gemüseriegel an. Oscar und Rebecca lehnten den Nomadenfraß höflich ab und boten ihnen stattdessen Muschelsuppe an. Die Nomaden schluckten vorsichtig den Rest der heißen Suppe und ließen sich ausführlich über den Geschmack aus. Als die tierischen Fette in ihren Blutkreislauf übergingen, wurden sie umgänglicher. Sie erkundigten sich nonchalant nach Metallschrott: Nägel, Eisen, Kupfer? Corky Shoeki, der Majordomus und Recyclingexperte, gab ihnen ein paar leere Büchsen.