»Nein, das Leben ist hart, wenn man einer Minderheit angehört. Es ist einfach so. Ich meine, gerade du solltest doch wissen, was das bedeutet. Ich weiß, du kannst nichts für deine Herkunft, aber trotzdem… Ich meine, das ist einer der Gründe, weshalb ich den Job in den Niederlanden angenommen habe. So viele amerikanische Weiße kehren nach Europa zurück… Dort sind meine Leute, verstehst du? Dort liegen meine Wurzeln. Ich glaube, das würde mir irgendwie helfen.«
Oscar bekam kaum mehr Luft.
»Ich habe ein richtig mieses Gefühl, Schatz, als hätte ich dich hängen lassen.«
»Nein, so ist es besser«, sagte Oscar. »Es tut sehr weh, aber es schmerzt weniger, als wenn sich die Beziehung dahinschleppen würde und wir uns gegenseitig etwas vormachten. Lass uns Freunde bleiben.«
»Weißt du, vielleicht komme ich ja wieder. Du brauchst nichts zu überstürzen. Du brauchst nicht gleich alles über den Haufen zu schmeißen. Ich bin’s doch, deine Clare. Hier geht’s nicht um Politik.«
»Lass uns einen klaren Schlussstrich ziehen«, sagte er mit fester Stimme. »Das ist am besten für uns. Für uns beide.«
»Also gut. Ich glaube, ich verstehe dich. Leb wohl, Oscar.«
»Es ist vorbei, Clare. Leb wohl.« Er legte auf. Dann schleuderte er das Handy in den Wald.
»Alles geht schief«, sagte zum schmutzigen rotgrauen Himmel. »Was ich auch anpacke, alles geht schief!«
3
Oscar zog Klebeband von einer gelben Rolle ab und wickelte es um einen Betonblock. Er schwenkte einen Handscanner über dem Block und aktivierte das Klebeband. Es ging auf ein Uhr morgens zu. Der Wind, der aus dem finsteren Pinienwald wehte, war feucht und unangenehm, doch Oscar arbeitete angestrengt, und das garstige Wetter war ihm gerade recht.
»Ich bin ein Eckstein«, verkündete der Betonblock.
»Schön für dich«, knurrte Oscar.
»Ich bin ein Eckstein. Bewegen Sie mich fünf Schritte nach links.«
Oscar überging die Bemerkung und umwickelte rasch noch sechs weitere Blöcke mit Klebeband. Über jedem Stein schwenkte er den Scanner, dann trug er den letzten Block beiseite, um die nächste Reihe abzuschließen.
Als er die beschuhten Hände darum legte, warnte ihn der Stein: »Bauen Sie mich noch nicht ein. Nehmen Sie erst den Eckstein.«
»Klar«, meinte Oscar. Das Bausystem beherrschte ein sehr begrenztes Fachvokabular. Bedauerlicherweise hörte das System nicht sonderlich gut. Die in das Sprechband eingebetteten winzigen Mikrofone waren weit weniger effektiv als die daumennagelgroßen Lautsprecher. Gleichwohl fiel es schwer, einem Betonblock, der mit solcher Gewandheit und Autorität sprach, die Antwort schuldig zu bleiben. Die Betonblöcke hörten sich an wie Franklin Roosevelt.
Bambakias hatte dieses Bausystem entwickelt. Wie viele Entwicklungen des Architekten war auch dieses System sehr funktional, steckte dabei aber voller Manieriertheiten. Oscar hatte volles Vertrauen zu dem System, ein pragmatischer Glaube, der auf Erfahrung gründete. Oscar hatte auf vielen von Bambakias’ Baustellen wie ein Maultier geschuftet. Bislang hatte noch niemand Alcott Bambakias’ Vertrauen gewonnen oder in seinen engsten Kreis Eingang gefunden, ohne dass er sich zuvor krumm gemacht hätte.
Körperliche Arbeit war das A und O in Bambakias’ intellektuellem Salon. W. Alcott Bambakias hatte zahlreiche unorthodoxe Überzeugungen, doch ganz vorne rangierte der unbedingte Glaube, dass Speichellecker und schlechte Künstler leicht ermüdeten. Wie viele Angehörige der modernen Oberschicht neigte auch Bambakias zu großzügigen Gesten und schleuderte gerne Golddukaten unters Volk. Seine Großzügigkeit zog Parasiten an, doch der ›Sommersoldaten und Schönwetterpatrioten‹, wie er sie nannte, entledigte er sich dadurch, dass er ihnen wiederholt äußerste körperliche Anstrengungen abverlangte. »Das macht Spaß«, verkündete Bambakias dann mit einem breiten Grinsen und krempelte sich die maßgeschneiderten Hemdsärmel hoch. »Da bekommen wir Ergebnisse zu sehen.«
Bambakias war kein Tagelöhner. Er war ein reicher Intellektueller, und seine Frau war eine bekannte Kunstsammlerin. Und aus eben diesen Gründen empfand das Paar ein perverses Vergnügen dabei, sich in der Öffentlichkeit Blasen und Sehnenzerrungen zuzuziehen und dabei zu schwitzen wie die Schweine. Das gefurchte, aber angenehme Gesicht des Architekten strahlte vor Noblesse-oblige wie ein Hundert-Watt-Strahler, wenn er in seinen Edeloveralls und mit Rückenstütze zu Werke ging. Seine elegante Gemahlin schleppte mit masochistischem Vergnügen Baumaterial, wobei ihre wie gemeißelt wirkenden Gesichtszüge die grimmige Entschlossenheit eines bügelnden Supermodels widerspiegelten.
Oscar war in Hollywood aufgewachsen. Das Poseurhafte bei den Bambakias hatte ihn nie gestört. Die Markenanzüge mit passendem Hut und Cape, die maßgeschneiderten Kleider, die glamourösen Wohltätigkeitsveranstaltungen in Boston – derlei Dinge übten auf Oscar eine wohltuend heimelige Wirkung aus. Das Konstruktionssystem machte es auf jeden Fall wieder wett. Das System spiegelte keine falschen Tatsachen vor – es funktionierte tadellos. Beliebig viele Leute konnten mitmachen. Das System bot für jeden Platz. Es war sowohl ein Netzwerk als auch ein Lebensstil, es gründete in digitaler Kommunikation und mündete in die steinharte Realität von Wänden und Böden. Es war trostreich, mit einem solchen System zu arbeiten, denn es löste seine Versprechen ein und führte stets zu Ergebnissen.
Das texanische Hotel beispielsweise war eine rein virtuelle Konstruktion, lauter Einsen und Nullen, eingeschlossen in einem Chip. Gleichwohl strebte das Hotel heftig danach, Wirklichkeit zu werden. Es würde sehr schön werden, und es war bereits sehr smart. Es vermochte sich mit gutem Zureden aus einem Haufen Rohmaterial zu konkretisieren. Es würde ein gutes Hotel werden. Es würde der Gegend und der Stadt gut tun. Es würde Wind und Regen abhalten. Menschen würden darin wohnen.
Oscar schleppte den selbsternannten Eckstein zur Südwand. »Hier gehöre ich her«, erklärte der Stein. »Bedecken Sie mich mit Mörtel.«
Oscar nahm eine Kelle zur Hand. »Ich bin das Werkzeug für den Mörtel«, piepste die kleine Kelle fröhlich. Oscar beschmierte die raue Oberfläche des Steins mit dicker grauer Paste. Eigentlich war dies kein richtiger Mörtel, aber das Polymer war ebenso billig und funktionierte viel besser, deshalb hatte man die Bezeichnung beibehalten.
Oscar wuchtete den Betonblock auf die hüfthohe Mauer. »Nach rechts«, drängte der Block. »Nach rechts, nach rechts, nach rechts… Nach links… Wieder zurück… Drehen Sie mich, drehen, drehen, drehen… Gut! Und jetzt scannen Sie mich.«
Oscar hob den Scanner an der Plastikschnur hoch und schwenkte ihn über dem Block. Der Scanner überprüfte die Positionierung des Blocks, dann piepste er zufrieden.
Oscar war bereits seit zwei vollen Stunden mit Mauern beschäftigt. Er war einfach mitten in der Nacht zur Baustelle marschiert, hatte sich eingeloggt, das System gebootet und dort weitergemacht, wo die Mannschaft am Abend aufgehört hatte.
Diese spezielle Wand durfte nicht mehr viel höher werden. Schon bald müssten sie sich um die Installationsarbeiten kümmern. Oscar hasste das Verlegen von Rohren, das stets die meisten Probleme bereitete. Die Installationsarbeiten waren eine uralte Technik, kein Plug-and-Play, niemals so leicht wie alles, was mit Computern zu tun hatte. Wenn es an die Installationen ginge, würde Bambakias’ Konstruktionssystem klugerweise passen. Alle höheren Funktionen würden solange erlöschen, bis die Rohre verlegt waren.
Oscar nahm den Hut ab und presste sich die beschuhten Hände auf die eiskalten Ohren. Morgen würde er bestimmt Rückenschmerzen und Muskelkater haben. Dies wäre aber eine seiner kleineren Sorgen.
Oscar trat unter einen paraboloiden Scheinwerfer, um nach den Versandkisten voller Installationsmaterial zu suchen. Der Scheinwerfer schwenkte auf der Stange herum, der Lichtkegel folgte Oscars Schritten. Er kletterte auf eine mächtige Kabelrolle, um sich einen Überblick zu verschaffen.