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Oscar war optimistisch. Er war Demokrat, Anhänger einer Reformpartei, und er glaubte an die Wirksamkeit von Reformen. Als Gruppe waren die Wissenschaftler gewissermaßen noch jungfräulich; sie stellten ein unerschlossenes politisches Potenzial dar. Sie waren ein ausgesprochen seltsamer Haufen, doch sie waren weit zahlreicher, als er je vermutet hätte. Im Laboratorium wimmelte es von ihnen. Als ob die Wissenschaft alle die aufgesaugt hätte, die zu intelligent waren, um einer praktischen Tätigkeit nachzugehen. Ihre selbstlose Hingabe an ihre Arbeit war ihm ein Rätsel.

Oscar hatte sich von seinem anfänglichen Erstaunen bald erholt. Nach einem Monat eingehender Nachforschungen hatte er begriffen, dass dies gar nicht so schwer zu verstehen war. Es stand einfach nicht genug Geld zur Verfügung, um normale Menschen so gut zu bezahlen, dass sie so hart wie Wissenschaftler arbeiteten. Ohne das belebende Element des verschrobenen Idealismus einer gesellschaftlichen Randgruppe wäre das Wissenschaftssystem schon vor Jahrhunderten zusammengebrochen.

Er hatte erwartet, dass sich staatlich bezahlte Wissenschaftler mehr oder weniger wie Staatsbeamte verhalten würden. Stattdessen hatte er eine vergessene Welt entdeckt, eine Hightech-Osterinsel, wo ein Volk sanftmütiger Außenseiter riesige und ein wenig sinnlose intellektuelle Statuen erschuf.

Auch Greta Penninger gehörte diesem kleinen Volk an, dem Hochintelligenzler-Kopf-in-den-Wolken-Proletariat. Unglücklicherweise redete und kleidete sie sich auch entsprechend. Trotzdem war Greta wirklich vielversprechend. Mit einer kompletten Überarbeitung, mit neuer Garderobe, verbessertem Diskussionsstil, einem Thema, einer Tagesordnung, ein paar Argumenten und einer klugen Hintermannschaft würden sich ihre Mängel beheben lassen.

Zu dieser Einschätzung gelangte Oscars Team nach reiflicher Überlegung. Während sie die Lage erörterten, spielten Oscar, Lana und Donna Poker. Poker war genau das richtige Spiel für Oscar. Beim Pokern verlor er nur selten. Seinen Mitspielern kam nie in den Sinn, dass er auf Grund seines relativen Reichtums ungestraft verlieren konnte. Oscar spielte absichtlich gerade so gut, dass es spannend blieb. Dann überreizte er sein Blatt, verlor haushoch und gab vor, über seinen Verlust tief betrübt zu sein. Die glücklichen Gewinner strichen ihren Gewinn ein und schütteten von der Warte des Siegers ihr Mitgefühl über ihn aus. Sie waren so zufrieden mit sich und dermaßen überzeugt von seinem rührenden Mangel an Cleverness und Tücke, dass sie ihm alles verziehen.

»Es gibt da noch ein Problem«, sagte Donna, geschickt die Karten mischend.

»Und das wäre?« fragte Lana, eine Pistazie knuspernd.

»Der Wahlkampfleiter sollte nicht mit der Kandidatin schlafen.«

»Sie ist keine richtige Kandidatin«, wandte Lana ein.

»Ich schlafe nicht mit ihr«, meinte Oscar.

»Aber er wird«, sagte Donna.

»Teilen Sie aus«, drängte Oscar.

Donna gab die Karten aus. »Vielleicht ist es ja in Ordnung. Bloß ein Versuch. Er kann nicht hier bleiben, und sie kann nicht weg. Eine Romeo-und-Julia-Geschichte, ohne dieses schreckliche Ende.«

Oscar ging nicht darauf ein. »Ihr Einsatz, Lana.« Lana legte einen halben Euro auf den Tisch. Sie pokerten immer um Euro-Bargeld. Es war auch amerikanisches Geld im Umlauf, billiges Plastikgeld, aber die meisten Leute wollten kein amerikanischen Bargeld mehr annehmen. Jetzt, da das amerikanische Geld nicht mehr frei konvertierbar war, konnte man es nicht mehr recht ernst nehmen. Außerdem waren die größeren Scheine verwanzt.

Corky, Fred, Rebecca Pataki und Fontenot erwarteten sie bereits in Holly Beach. Unterstützt vom Team mit seinen Online-Katalogen hatten sie sich rührende Mühe mit dem gemieteten Strandhaus gegeben. Sie hatten sechsundneunzig Stunden Zeit gehabt, das heruntergekommene Haus in Ordnung zu bringen. Von außen war es unverändert: knarrende Treppen, geteerte Holzpfeiler und Veranden mit salzzerfressenem Bretterboden. Eine gelbe Käseschachtel mit Flachdach.

Im Innern der elenden Holzhütte aber gab es nun kleine Teppiche, geschmackvolle Vorhänge, behagliche Ölöfen, richtige Federkissen und geblümte Tapeten. Dazu zahlreiche Annehmlichkeiten, wie man sie unterwegs zu schätzen wusste: Duschhauben, Seife, Handtücher, Rosen, Bademäntel, Pantoffel. Lorena Bambakias hätte sich dadurch nicht täuschen lassen, trotzdem verstanden Oscars Mitarbeiter ihr Handwerk; sie hatten das Haus dem Zustand der Verwahrlosung entrissen.

Oscar stieg ins Bett und schlief fünf Stunden, eine lange Zeit für ihn. Er erwachte erfrischt und energiegeladen. Im Morgengrauen verzehrte er einen Apfel aus dem kleinen Kühlschrank und ging anschließend am Strand spazieren.

Es war windig und kalt, doch die Sonne ging gerade über dem stahlgrauen Golf von Mexiko auf und übergoss die Welt mit winterlicher Klarheit. Der Strand machte nicht viel her. Nachdem der Meeresspiegel in den vergangenen fünfzig Jahren um mehr als einen halben Meter angestiegen war, bot der unregelmäßige braune Küstenstreifen keinen schönen Anblick mehr. Der Ort, wo sich die Siedlung ursprünglich befunden hatte, lag nun im Wasser. Die Häuser hatte man auf einer ehemaligen Kuhweide neu aufgebaut. Zurückgeblieben war ein Netzwerk geborstenen Straßenpflasters, das von der Brandung überspült wurde.

Viele andere Siedlungen am Rande des Kontinents waren nicht so glimpflich davongekommen. Ständig wurden an amerikanischen Stränden Plankenwege, Teile von Kaianlagen und selbst komplette Häuser angespült.

Oscar schlenderte an einer Ansammlung zerknautschten Aluminiums vorbei. Das viele Treibgut erfüllte ihn mit wohliger Melancholie. Er hatte noch keinen Strand betreten, der nicht bedeckt gewesen war mit verrosteten Fahrrädern, vollgesogenen Sofas, pittoreskem, vom Sand blankgescheuertem medizinischem Abfall. Seiner Ansicht nach klagten Eiferer wie die Niederländer viel zu sehr über die Folgen des ansteigenden Meeresspiegels. Wie alle Europäer waren die Niederländer in der Vergangenheit verhaftet, unfähig, sich mit den neuen globalen Realitäten pragmatisch zu arrangieren.

Bedauerlicherweise ließ sich der gleiche Vorwurf auch gegen die Vereinigten Staaten erheben. Oscar sann über seine ambivalenten Gefühle nach, während er sorgfältig den Brandungsschaum von seinen polierten Schuhen streifte. Oscar betrachtete sich als amerikanischen Patrioten. In der Tiefe seines kalten, schweigenden Herzens war er der amerikanischen Politik so zugetan, wie sein Beruf und seine Kollegen es eben zuließen. Oscar respektierte und schätzte die archaische Förmlichkeit des US-Senats. Der Clubcharakter des Senats übte einen starken Reiz auf ihn aus. Die gemächlichen Debatten, die Garderoben, die Verfahrensregeln, der personalisierte, präindustrielle Sinn für Würde… Er glaubte, eine perfekte Welt müsse ganz ähnlich organisiert sein wie der US-Senat. Ein gefestigtes Reich alter Fahnen und dunkler Holztäfelung, wo in einer Festung gemeinsamer Werte verantwortungsvolle, kluge Debatten geführt wurden. Oscar betrachtete den US-Senat als starkes, würdevolles Gebäude, von tüchtigen politischen Architekten erbaut, um zu überdauern. Wären die Umstände günstiger gewesen, hätte er sich mit Freuden des Systems bedient.

Oscar aber war ein Kind seiner Zeit und wusste daher, dass ihm dieser Luxus verwehrt war. Er wusste, dass es seine Pflicht war, sich den gegenwärtigen politischen Realitäten zu stellen und sie zu meistern. Und die Realität sah so aus, dass die elektronischen Netzwerke die alte Ordnung innerlich ausgehöhlt hatten, ohne eine neue Ordnung an ihre Stelle zu setzen. Die erschreckende Geschwindigkeit der digitalen Kommunikation, die damit einhergehende Einebnung der Hierarchien, der Aufstieg der netzbasierten Zivilgesellschaft und der Verfall der industriellen Basis hatten die amerikanische Regierung überfordert.