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Mittlerweile gab es sechzehn größere Parteien, unterteilt in widerstreitende Lager, geprägt von internen Grabenkriegen, von Überläufern und Säuberungen. Es gab Städte in Privatbesitz mit Millionen ›Kunden‹, die herzlich wenig auf das Gesetz gaben. Es gab mafiöse Preiskartelle, Geldwaschanlagen und grüne Tauschringe. Es gab Gesundheitsorganisationen in der Hand von verrückten Organhändlerbanden, bei denen jeder Quacksalber, der in der Lage war, sich ein Chirurgieprogramm herunterzuladen, komplizierte medizinische Techniken anwenden durfte. Vollkommen ortsungebundene Netzmilizen zapften alle möglichen Informationen ab. Im amerikanischen Westen gab es abtrünnige Counties, wo sich ganze Städte an Nomadenstämme verkauft hatten und einfach von der Landkarte verschwunden waren.

In Neuengland gab es Stadtzusammenschlüsse, die über mehr Rechenleistung verfügten als früher die ganze US-Regierung. Kongressangestellte bildeten unabhängige Gruppen. Die Exekutive verzettelte sich in endlosen Grabenkriegen mit zahllosen Dienststellen, die alle ausgezeichnet informiert, sehr aktiv im Netz und daher vollkommen unfähig waren, eine realistische Tagesordnung aufzustellen und sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren. Die Nation war verrückt nach Meinungsumfragen, die noch nie so zynisch manipuliert worden waren wie derzeit – die geringsten Anlässe brachten verbissene, auf einem einzigen Thema beruhende Bündnisse hervor und zogen zahllose automatisierte Klagen nach sich. Die konfuse Steuergesetzgebung hatte jede Verbindung zur Realität verloren, wurde vom E-Commerce gewohnheitsmäßig umgangen und von den Bürgern nur zähneknirschend geduldet.

Während der inländische Konsens immer weiter schwand, richteten die Notstandsausschüsse im Gefolge des verlorenen Wirtschaftskriegs mit China ein beispielloses Chaos an. Mit der offiziellen Erklärung des Notstands trat der Kongress seine ureigenen Rechte an einen Überbau angeblich zu schnellerem Handeln befähigter Exekutivausschüsse ab. Dieser verzweifelte Schritt hatte der alten Verfahrensweise lediglich eine neue übergestülpt. Das Land hatte jetzt zwei nationale Regierungen, die ursprüngliche, zögerliche, nur unvollständig verdrängte legale Regierung und die sprunghaften, immer schriller klingenden Verlautbarungen der Notstandscliquen.

Auch Oscar hatte hinsichtlich mancher Verfahrensweisen der Demokraten Bedenken, hielt das Parteiprogramm im Wesentlichen aber für vernünftig. Zunächst einmal galt es, die Notstandsausschüsse in die Schranken zu verweisen und aufzulösen. Sie waren von der Verfassung her nicht legitimiert; sie hatten kein unmittelbares Wählermandat; sie verstießen gegen grundlegende Prinzipien der Gewaltenteilung; sie ließen sich nicht richtig zur Rechenschaft ziehen; und vor allem waren sie durch und durch korrupt. Die Notstandsausschüsse schafften es einfach nicht, das Land erfolgreich zu regieren. Da sie emsig um die verschiedenen Interessengruppen bemüht waren, erfreuten sie sich zeitweise einiger Beliebtheit, doch je länger der Notstand andauerte, desto näher rückten sie einem in Zeitlupe ablaufenden Staatsstreich und der Übernahme der Macht.

Wenn die Ausschüsse entmachtet und die Notstandsverordnung außer Kraft gesetzt wären, wäre es an der Zeit, die Beziehungen zwischen Unionsregierung und Bundesstaaten zu reformieren. Die Dezentralisierung war einfach zu weit gegangen. Was früher einmal zu größerer Flexibilität geführt hatte, bewirkte nun heillose Konfusion. Man musste eine verfassungsgebende Versammlung einberufen und Schluss machen mit dem Territorialprinzip bei der Volksvertretung. Man musste einen vierten Regierungszweig ins Leben rufen, der auf nichtgeografischen Netzwerken beruhte.

Nach diesen größeren Reformen wäre die Bühne bereitet, um endlich die wahren Probleme des Landes anpacken zu können. Dies musste ohne Bosheit, ohne Hast und ohne abstoßende Attacken gegen die alte Parteigarde vonstatten gehen. Oscar glaubte, dass dies möglich sei. Die Lage war schlimm… sehr schlimm… auf den Außenstehenden musste sie geradezu hoffnungslos wirken. Gleichwohl verfügte die amerikanische Gesellschaft noch immer über große Kreativitätsreserven – falls es gelang, das Land wieder zu einen und in die richtige Richtung zu führen. Ja, es stimmte, die Nation war auseinandergebrochen, doch auch andere Länder hatten den Zusammenbruch ihrer Währung und den Niedergang ihrer Industrie miterleben müssen. Dieser Zustand war erniedrigend, aber vorübergehender Natur und daher auch zu überstehen. Im Grunde genommen war Amerikas vollständige Niederlage im Wirtschaftskrieg im Vergleich zu Flächenbombardements oder einer Invasion durch ausländische Mächte von eher untergeordneter Bedeutung.

Das amerikanische Volk musste sich damit abfinden, dass Software ökonomisch wertlos geworden war. Das war unfair, ungerecht, aber eine Tatsache. In mancherlei Hinsicht musste Oscar den Chinesen wegen ihres klugen Schachzugs, das gesamte englischsprachige Wissen übers Netz kostenlos zugänglich zu machen, Anerkennung zollen. Die Chinesen hatten nicht einmal die Landesgrenzen überschreiten müssen, um der amerikanischen Wirtschaft den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

In gewisser Weise konnte man diese brutale Konfrontation mit der analogen Realität Chinas als einen Segen betrachten. Oscars Ansicht nach war Amerika von der mühevollen Rolle der letzten Supermacht und des Weltpolizisten auf Dauer überfordert gewesen. Als amerikanischer Patriot war Oscar es recht zufrieden, eine Zeit lang die Soldaten anderer Länder in Särgen heimkehren zu sehen. Die Pflichten eines Weltpolizisten standen nicht im Einklang mit dem amerikanischen Nationalcharakter. Ordentliche, penible Völker wie die Schweizer und die Schweden gaben gute Polizisten ab. Amerika stand die Rolle des Weltfilmstars viel besser. Oder die des tequilabenebelten Profi-Bowlingspielers. Oder die des Bühnenkomikers mit dem beißenden Humor. Amerika war alles andere als eine trübsinnige, langweilige Nation von Offizieren mit sozialem Verantwortungsbewusstsein.

Oscar machte auf dem braun geriffelten Sandstrand kehrt und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Es tat ihm gut, einmal unerreichbar zu sein; den Laptop und selbst die Telefone aus seinen Ärmeln und Taschen hatte er im Wahlkampfbus zurückgelassen. Für einen Politprofi war es wichtig, hin und wieder zum Tagesgeschäft auf Abstand zu gehen und Ordnung und Perspektive in seine Gedanken und seine Intuition zu bringen. Oscar nahm sich nur selten Zeit für diese lebenswichtigen Momente – sollte er irgendwann einmal hinter Gittern landen, bliebe ihm noch Zeit genug, seine persönliche Philosophie zu entwickeln. Heute aber, in dieser vergessenen Welt des Sandes, des Windes, der Wogen und des kühlen Sonnenscheins, nahm er sich Zeit zum Nachdenken, und er spürte, wie gut es ihm tat.

Ein inwendiger Druck hatte sich bei ihm aufgebaut. In den vergangenen dreißig Tagen hatte er eine Menge in Erfahrung gebracht, hatte Unmengen ausgedruckter Daten geordnet, um die Angelegenheit zu beschleunigen, ohne dass er bereits eine weiterreichende Perspektive entwickelt hätte. Sein mit Daten vollgestopfter Kopf ähnelte einem Durcheinander von Felsblöcken. Er war nervös, angespannt, abgelenkt und wurde zunehmend gereizt.

Vielleicht war dies einfach die Durststrecke zwischen zwei Frauen.

Greta wurde im Laufe des Vormittags erwartet. Negi hatte einen wundervollen Lunch mit verschiedenen Meeresfrüchten für sie vorbereitet. Greta aber verspätete sich. Das Team speiste ausgiebig im Bus, ließ die Korken knallen und hielt die Fassade aufrecht, scherzte sogar über Gretas Nichterscheinen. Als Oscar hinausging, hatte sich seine Stimmung jedoch merklich verdüstert.