»Der Gouverneur braucht Bodyguards, er lebt gefährlich«, sagte Greta hinter der Badezimmertür. »Oscar, weshalb hat er dich als ›Seifenvertreter‹ bezeichnet?«
»Ach, das. Das war die erste Firma, für die ich gearbeitet habe. Eine Biotech-Firma. Wir haben Emulgatoren für Geschirrspülmittel hergestellt. Die Leute machen sich oft falsche Vorstellungen. Sie glauben, Biotech müsse immer etwas Besonderes sein. Seife aber ist ein gängiger Konsumartikel. Wenn man die Herstellungskosten um fünf Prozent senken kann, rennen einem die Firmenaufkäufer die Türen ein…« Er verstummte. Greta putzte sich die Zähne, hörte gar nicht zu.
Als sie aus dem Bad kam, trug sie ein Nachthemd aus weißem Flanell. Es reichte ihr bis auf die Knöchel und hatte eine kleine pastellfarbene Schleife am Ausschnitt. Sie nahm einen kompakten Luftfilter aus der Reisetasche.
»Allergien?« fragte Oscar.
»Ja. Die Luft außerhalb der Kuppel… na ja, draußen riecht es immer so komisch.« Sie schaltete den Filter ein. Er summte laut.
Oscar vergewisserte sich, dass die Fenster geschlossen und die Vorhänge zugezogen waren. Seine Gefühle ihr gegenüber hatten in der Zwischenzeit unbemerkt einen turbulenten Wandel vollzogen. Die Begegnung mit dem Gouverneur hatte ihn innerlich aufgewühlt. Jetzt war er erregt, erfüllt von aufgestauter Emotion. Leidenschaftlich, aggressiv und besitzergreifend. Er war krank vor Eifersucht. »Willst du darin schlafen?«
»Ja. Nachts kriege ich immer kalte Füße.«
Oscar schüttelte den Kopf. »Du wirst nicht darin schlafen. Und wir gehen auch nicht ins Bett. Diesmal nehmen wir den Boden.«
Sie besah sich den Boden. Er war bedeckt mit einem hübschen Webteppich. Sie sah Oscar an und errötete bis über beide Ohren.
Kurz nach Sonnenaufgang erwachte er. Er hatte auf dem Teppich geschlafen. Greta hatte ihn mit dem Bettlaken und der Decke zugedeckt. Sie saß am Schreibtisch und machte Eintragungen in ihr Notebook.
Oscar musterte bedächtig die Wasserflecken an der Decke. Er hatte sich die Kniescheiben am Teppich wundgescheuert. Der Rücken tat ihm weh. Unter seiner Hüfte trocknete ein feuchter Fleck. Zum erstenmal seit Wochen war er mit sich wahrhaft im Reinen.
5
Hätte Fontenot nicht Erkundigungen eingeholt und den Weg geebnet, wäre Oscar nicht so leicht vorangekommen. Die Straßen in Alabama wurden vom Besucherverkehr der verrückten christlichen Revival-Shows verstopft, die ihr Motto ›Dem Geist neues Leben einhauchen‹ mit Gospel-Raves im 200-Beats-pro-Minute-Rhythmus feierten. In Tennessee wurde Oscar durch mexikanische Wanderarbeiter behindert, die mit Hacke und Schaufel die wuchernden Kudzupflanzen bekämpften. Oscar genoss die relative Sicherheit eines angeblich gefährliche Biotechladung befördernden Busses, doch es waren Situationen denkbar, da auch das nichts mehr nützen würde.
Während Lana, Donna und Moira sich im Bus jedoch langweilten und häufig gereizter Stimmung waren, war Oscar niemals müßig. Solange er seinen Laptop und Netzzugang hatte, stand ihm die ganze Welt offen. Er kümmerte sich um seine Finanzen. Er studierte die Dossiers seiner Kollegen vom Wissenschaftsausschuss. Er tauschte lockere E-mails mit Greta aus. Greta schrieb gerne E-mails. Zumeist berichtete sie von ihrer Arbeit – alles drehte sich bei ihr um die Arbeit –, doch mittlerweile verstand er bereits ganze Absätze von dem, was sie schrieb.
Auf den Heckfenstern des Busses liefen ständig die Nachrichten. Mit besonderem Interesse verfolgte Oscar alles, was mit Bambakias’ Hungerstreik in Verbindung stand.
Der Skandal schlug hohe Wellen. Als Oscar die Vororte Washingtons erreichte, befand sich der Luftwaffenstützpunkt in Louisiana im Belagerungszustand.
Die Stromversorgung hatte man längst unterbunden, da keine Zahlungen mehr erfolgten. Die Flugzeuge hatten keinen Treibstoff mehr. Die verzweifelten Unionssoldaten tauschten gestohlene Ausrüstungsgegenstände gegen Nahrung und Schnaps ein. Desertionen waren an der Tagesordnung. Der Kommandant hatte unter Tränen ein Videogeständnis abgelegt und sich erschossen.
Green Huey hatte die Geduld verloren. Er rückte an, und er meinte es ernst. Einen Luftwaffenstützpunkt mit bundesstaatlichen Truppen anzugreifen, wäre zu gewagt und direkt gewesen. Stattdessen heuerte der Gauner Guerillas an.
Huey hatte das Vertrauen der Prolonomaden dadurch gewonnen, dass er ihnen sicheren Unterschlupf gewährte. Er erlaubte ihnen, in zahlreichen von der Unionsregierung zu kontaminierten Sperrzonen erklärten Gebieten zu lagern. Diese vergessenen Gebiete waren mit petrochemischen Rückständen und den Hormonhaushalt beeinflussenden Pestiziden verunreinigt und daher für menschliche Besiedlung ungeeignet. Die Prolohorden dachten anders darüber.
Prolos sammelten sich bedenkenlos überall dort, wo der Arm der Behörden nicht hinreichte. Wenn die vernetzten Prolos nicht ständig von den Behörden behelligt wurden, vereinigten sie sich und wurden frech. Wenngleich sie durch gezielte Aktionen leicht zerstreut werden konnten, sammelten sie sich anschließend wieder wie ein Mückenschwarm. Mit ihren Erntemaschinen und Bioreaktoren konnten sie ganz am Anfang der Nahrungskette ansetzen. Sie hatten kein Interesse an der etablierten Ordnung und kannten sich genau aus mit den infrastrukturellen Schwächen der Gesellschaft. Mit ihnen war nicht gut Kirschen essen.
Nomadenprolos gediehen nicht in dicht besiedelten Gebieten wie Massachusetts, wo sie mittels Videoüberwachung und den Suchmaschinen der Polizei relativ leicht auszumachen und unter Kontrolle zu halten waren. Green Huey aber war nicht aus Massachusetts. Die dort geltenden Verhaltensregeln waren ihm vollkommen gleichgültig. Die ökologisch vergifteten Gebiete Louisianas waren für die Prolos ideal. Die Sperrgebiete dienten auch als Reservate, denn sie kamen mit chemischen Giften leichter zurecht als mit der Anwesenheit von Menschen. Nach jahrzehntelangem subtropischem Wachstum waren die vergifteten Gebiete Louisianas ebenso undurchdringlich wie Sherwood Forest, der Wald, der einmal Robin Hood als Versteck gedient hatte.
Hueys Lieblingsprolos stammten aus Louisiana und waren auf Grund des gestiegenen Meeresspiegels und der durch Hurrikans und vom unberechenbaren Mississippi hervorgerufenen Überschwemmungen heimatlos geworden. In den Tiefen des ruinierten Landes hatten sie eine ganz andere Ordnung herausgebildet als die verstreuten Dissidenten der Ostküste. Die Louisianer bildeten eine mächtige, ehrgeizige, florierende Gegengesellschaft, mit eigener Kleidung, eigenen Gebräuchen, eigener Polizei, eigener Wirtschaft und eigenen Medien. Aus diesem Grund hatten sie sich zum Herren über die weniger gut organisierten Dissidenten, Wanderarbeiter und Angehörigen der Freizeitgewerkschaften aufgeschwungen. Man nannte sie die Regulatoren.
Der Dschungelkrieg in den Sümpfen Louisianas begünstigte Hueys Regulatorenhorden wie der Guerillakrieg die Maoisten der Vergangenheit. Jetzt hatte Huey einen Netzkrieg entfesselt, und in dessen Folge brach eine gedämpfte Hölle über den Luftwaffenstützpunkt herein.
Das traurige am amerikanischen politischen Disput war, dass die europäischen Medien am eingehendsten und exaktesten darüber berichteten. Oscar machte einen europäischen Satellitenkanal ausfindig, der eine Pressekonferenz aus Louisiana übertrug, veranstaltet von einer Fanatiker in namens Ooney Bebbels, die sich als ›stellvertretende Befehlshaberin des Regulatorenkommandos‹ bezeichnete.
Die Guerillaanführerin trug eine schwarze Skimaske, verdreckte Jeans und einen weiten Pullover. Sie stolzierte vor den lauschenden Journalisten auf und ab und schwang ein gefiedertes schwarzes Offiziersstöckchen und eine Fernsteuerung. Die Propagandaveranstaltung fand in einem großen aufblasbaren Zelt statt.