Diese Technik hatte allerdings eine Nebenwirkung: sie machte das Leben eines jeden Einzelnen zu einer quasi öffentlichen Angelegenheit. Auf den Gängen des Gebäudes spielten Kinder – dem Durcheinander nach zu schließen, wohnten sie sogar dort. Die Kinder waren ebenfalls markiert und mit Mikrofonen ausgestattet, und sie waren umgeben von einem Durcheinander farbcodierter Spielzeuge, deren Position registriert war.
Oscar bahnte sich einen Weg durch eine Ansammlung von Dreirädern und aufblasbaren Tieren hindurch, dann fuhr er mit einem vollgestopften Aufzug in den zweiten Stock hoch. Hier roch es stark nach indischen Gerichten – nach Curry, Papadams, vielleicht auch nach Hühnermasala. Dem Geruch nach zu schließen, wurden hier auch lebende, computerüberwachte Hühner gehalten.
Die Doppeltür des Zimmers 358 öffnete sich vertrauensvoll auf seine Berührung hin. Oscar trat in ein Künstleratelier, in einen kahlen, übelriechenden Raum, der aus verkohlten Büroeinheiten zusammengesetzt war. Die abgebrannten Büros wiesen unheimliche Hinterlassenschaften auf: ein Gitterwerk verkohlten Fußbodenbelags und die tropfenden Stalagmiten geschmolzener Kunststoffterminals. Jedenfalls hatte das Büro einen neuen Besitzer gefunden. Nun stand darin eine lange, selbstgebaute Werkbank aus verbolzten Eisenbahnschwellen, umgeben von gestapeltem Autoschrott, ausgedrückten Klebstofftuben und kurzen, dicken Metallstangen. Der Betonboden hallte unter Oscars Füßen.
Offenbar befand er sich im falschen Raum.
Sein Handy klingelte. »Hallo?«
»Bist du’s wirklich?« fragte Greta.
»Natürlich bin ich das – ganz persönlich.«
»Nicht der Telefonsexdienst?«
»Nein. Ich lasse meine Privatgespräche über den Sexdienst laufen. Die haben ein enormes Gesprächsaufkommen, das ist ein guter Schutz gegen Überwachung. Und sollte tatsächlich jemand die Gespräche unter die Lupe nehmen, würde man annehmen… Aber lassen wir die technischen Details. Jedenfalls können wir uns über eine unverschlüsselte Leitung gefahrlos unterhalten.«
»Wenn du es sagst.«
»Lass uns reden, Greta. Sag mir, wie’s dir geht. Erzähl mir alles.«
»Bist du wohlbehalten in Washington angekommen?«
Oscar drückte zärtlich das Stoffhandy. Es war, als hielte er ihr Ohr in seiner Hand. Auf einmal machte es ihm nichts mehr aus, dass er sich hoffnungslos verlaufen hatte und offenbar im falschen Gebäude war.
»Mir geht’s prima. Schließlich ist das der Ort, wo ich Karriere mache.«
»Ich mache mir Sorgen, Oscar.« Eine lange Pause. »Ich… ich könnte vielleicht später am Tag nach Boston fliegen. Dort findet ein Seminar über Hirnforschung statt. Vielleicht könnte ich mir etwas Zeit abknapsen.«
»Wunderbar! Du solltest unbedingt nach Boston fliegen. Ich zeige dir mein Haus.« Eine lange, knisternde Pause.
»Klingt interessant…«
»Tu es. Das ist genau das, was wir brauchen. Es würde uns gut tun.«
»Ich muss dir etwas Wichtiges sagen…«
Er überprüfte rasch den Akkustand, dann drückte er sich das Handy wieder ans Ohr. »Na los, erzähl’s mir, Greta.«
»Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll… Es ist bloß… Ich bin so durcheinander und… Ich bin so begeistert und…« Erwartungsvolle Stille.
»Na los«, drängte er. »Red’s dir von der Seele.«
Sie senkte die Stimme zu einem vertraulichen Geflüster. »Es geht um meine Amyloidfibrillen…«
»Um was?«
»Um meine Fibrillen. Es gibt zahlreiche Hirnproteine, die in vivo Amyloidfibrillen bilden. Obwohl sie ganz unterschiedliche Sequenzen bilden, polymerisieren sie doch alle in der gleichen Metastruktur. Die konformative Faltung hat mir Sorgen bereitet. Große Sorgen.«
»Tatsächlich? Eine Schande.«
»Aber dann habe ich mich gestern mit den GDNF-Adeno-Botenstoffen beschäftigt und eine neue amyloidogene Variante auf die Botenstoffe gepfropft. Eben habe ich mit dem Elektrosprayspektrometer die Masse bestimmt. Und sie translatieren, Oscar. Sie sind alle enzymatisch aktiv und bilden intakte Disulfidbindungen aus.«
»Es ist wundervoll, dir zuzuhören.«
»Sie translatieren in vivo! Das ist ein viel schonenderer Eingriff als die plumpe, altmodische Gentherapie. Das war der kritische, limitierende Faktor; man brauchte eine billige Methode für die Übertragung. Aber wenn wir das mit den Amyloiden und auch mit Dopamin und neurotrophen Faktoren schaffen… Ich meine, all diese Informationen auf lebendes Hirngewebe zu transferieren… Also, was das bedeutet, brauche ich dir wohl nicht zu erklären.«
»Nein, nein«, versicherte ihr Oscar, »auf dem Gebiet bin ich firm, glaub mir.«
»Bellotti und Hawkins verwenden freilich autosomale Amyloidose, deshalb könnte es sein, dass sie weiter sind als ich. Und jetzt halten sie im AMAC in Boston einen Vortrag.«
»Dann solltest du unbedingt nach Boston fliegen«, sagte Oscar, »es kommt gar nicht infrage, dass dir ein Schmarotzer wie Bellotti zuvorkommt! Ich regle alles für dich, jetzt gleich. Mach dir wegen der Reisespesen keine Sorgen. Mein Team wird dir einen Flug nach Boston buchen. Im Flugzeug hast du Zeit, an deiner Präsentation zu feilen. Wir besorgen dir eine Suite im Tagungshotel und lassen dir das Essen aufs Zimmer bringen, um Zeit zu sparen. Du solltest die Gelegenheit beim Schopfe packen, Greta. In dem Labortrubel kommst du doch nicht zum Nachdenken.«
Der Vorschlag schien ihr zu gefallen. »Also…«
Die Tür zum Raum 358 ging auf, und eine Schwarze in einem quietschenden, motorbetriebenen Rollstuhl kam hereingefahren. Ihr Haarschopf war schmutziggrau, und sie hatte mehrere grüne Plastikmülltüten dabei.
»Ich verstehe, worum es geht«, sagte Oscar ins Handy, während er sich vorsichtig von der Tür entfernte. »Boston ist genau das Richtige.«
»Hallo!« sagte die Frau im Rollstuhl und schwenkte die Hand. Oscar verdeckte das Mikrofon des Handys und nickte höflich.
Die Schwarze sprang aus dem Rollstuhl hoch, schaltete ihn ab und hielt die Tür auf. Drei Weiße stürmten in den Raum, bekleidet mit Overalls, Stiefeln und zerfledderten Strohhüten. Das Haar hatten sie blau gefärbt, im Gesicht hatten sie die Kriegsbemalung der Nomaden, und alle trugen Sonnenbrillen. Der eine hatte eine gewaltige Schubkarre voller Kabel und Flachbildschirme dabei, die anderen beiden schleppten große khakifarbene Werkzeugkästen.
»Glaubst du wirklich, die Fibrillen sind heiß genug?« wollte Greta wissen.
»Fibrillen sind extrem heiß.«
Die Frau mit dem Rollstuhl nahm die scheußliche Perücke ab, unter der ordentlich geflochtenes Haar zum Vorschein kam. Dann schüttelte sie den zerlumpten Kaftan ab. Darunter war sie mit einem marineblauen Rock, blauer Weste, Seidenbluse und Strümpfen bekleidet.
Die drei Techniker machten sich daran, auf der vom Schweißen versengten Werkbank ein Konferenznetzwerk zu installieren.
»Ich bin Oscar Valparaiso«, verkündete Oscar. »Ich gehöre dem Ausschuss an.«
»Sie kommen zu früh«, sagte die Frau. Aus einem der Müllbeutel holte sie einen Mehrfachstecker und ein neues Paar Schuhe hervor.
»Ich freue mich auf einen Neuanfang.« Oscar sprach wieder ins Handy. »Okay. Okay. Ist gut. Ich freue mich, dass es klappt. Lana und ich werden uns um alles kümmern. Bis dann.« Er knüllte das Handy zusammen und stopfte es sich in den Ärmel.
»So«, sagte er laut. »Und wie heißen Sie?«
»Chris«, antwortete die Frau und strich sorgfältig eine Naht glatt. »Ich bin der Ausschuss-Sysop.« Sie lächelte. »Bloß der Sysop.«