»Ich weiß.«
»Wir haben einfach nicht genug Aufmerksamkeit erregt. Wir haben einen riesigen PR-Rummel veranstaltet und standen kurz davor, die Partei zu sammeln und den Stützpunkt zu belagern. Huey war einfach zu schnell für uns. Alcott ist noch nicht mal vereidigt! Und nach seiner Amtseinführung haben wir es immer noch mit den Notstandsausschüssen zu tun. Von der Opposition ganz zu schweigen. Außerdem ist die Unionsregierung schlichtweg pleite…. Es sieht schlimm aus, Oscar. Wirklich schlimm.«
»Morgen fliege ich nach Boston. Wir denken uns etwas Neues aus. Der Hungerstreik ist jetzt beendet, aber dieser Schachzug hat mir nie so recht gefallen. Keine Bange. Sie müssen erst einmal wieder zu Kräften kommen. Das Spiel ist noch längst nicht aus.«
Sie blickte ihn dankbar an. Während sie das Sandwich verspeiste, sah er weiter Nachrichten.
Schließlich stellte sie den Teller weg und lehnte sich mit funkelnden Augen auf dem Sofa zurück. »Wie war Ihre erste Ausschusssitzung, Oscar? Ich habe ganz vergessen, Sie danach zu fragen. Waren Sie brillant?«
»Um Himmels willen, nein. Die können es nicht ausstehen, wenn man brillant ist. Dann schalten sie auf stur. Ich habe einfach solange meine Fakten und Zahlen runtergebetet, bis es ihnen langweilig wurde und sie abschalteten. Mittlerweile hatte der Vorsitzende die Stimmrechte eingesammelt. Als ich ihn dann um seine Hand bat, reichte er mir den kleinen Finger. Mehr als den kleinen Finger wollte ich gar nicht. Somit war die Sitzung ein voller Erfolg für mich. Ich habe jetzt nahezu freie Hand.«
Sie lachte. »Sie sind mir ein Schlingel!«
»Es hat keinen Zweck, brillant zu sein, wenn es einen nicht weiterbringt. Der Senator hat mit dem Hungerstreik einen brillanten Mediencoup gelandet, aber jetzt sollte Alcott lernen, langweilig zu sein. Romantiker sind brillant, Künstler sind brillant. Politiker wissen, wann Langeweile gefordert ist.«
Lorena nickte nachdenklich. »Da haben Sie wohl Recht. Sie werden sich gut um Alcott kümmern, nicht wahr? Sie verstehen ihn. Sie konnten ihn immer zur Vernunft bringen. Sie können ihn aufmuntern, wenn er niedergeschlagen ist.«
»Sie sind doch nicht etwa deprimiert, Lorena?«
»Nein, ich bin nicht deprimiert. Ich bin bis zum Hals mit Diätpillen vollgestopft. Aber Alcott ist anders als ich. Er nimmt sich alles zu Herzen. Er neigt zu Depressionen. Ich kann im Moment nicht bei ihm sein. Und wenn er deprimiert ist, steht ihm der Sinn nach Sex.«
Oscar schwieg erwartungsvoll.
»Es war leichtsinnig von Leon Sosik, sich von Alcott zum Hungerstreik überreden zu lassen. Alcott hat zahllose Einfälle, aber ein besserer Stabschef würde ihm die dummen Ideen ausreden. Und wenn Sie, Oscar, Moira, dieses kleine Flittchen, nach Boston mitnehmen, während ich nicht da bin, dann wäre das ebenfalls sehr dumm von Ihnen.«
Seit er in jedem einzelnen Wahlbezirk auf Stimmenfang gegangen war, kannte Oscar Boston wie seine Westentasche. Verglichen mit anderen amerikanischen Städten war Boston vernünftig, zivilisiert und aufs Gemeinwohl bedacht. Boston hatte viele Vorzüge. Einen funktionsfähigen Haushalt. Ruhige, prachtvolle Parks. Bedeutende Museen, ausgestattet und unterhalten von Menschen mit einem Sinn für kulturelle Kontinuität. Sehenswerte Plastiken aus mehreren Jahrhunderten. Lebendige, kommerzielle Theater. Restaurants mit Kleidervorschrift. Gegenden mit echter Nachbarschaft und Kneipen.
Natürlich gab es auch in Boston weniger begünstigte Gegenden; die Combat Zone, den halb überschwemmten Küstenstreifen… doch wieder zu Hause zu sein, vermittelte Oscar vorübergehend das Gefühl von Gnade. Den Malstrom von Los Angeles hatte er nie vermisst, und was das bedauernswerte alte Washington anging, so vereinte es die Langeweile Brüssels mit dem Wahnsinn von Mexiko City. Osttexas war natürlich völlig abwegig. Allein schon der Gedanke, dorthin zurückzukehren, verursachte ihm Kopfschmerzen.
»Ich werde den Wahlkampfbus vermissen«, sagte Oscar. »Der Verlust tut weh. Das ist, als hätte ich eine ganze Gruppe Go-Steine verloren.«
»Könnten Sie sich nicht einen eigenen Bus kaufen?« fragte Moira, während sie mit ihren frisch lackierten Nägeln den fotogenen Mantelkragen richtete.
»Klar könnte ich mir einen Wahlkampfbus leisten, wenn man die Dinger mit ungelernten Arbeitskräften aus Betonblöcken zusammensetzen würde«, erwiderte Oscar. »Bislang ist das noch keinem gelungen. Und jetzt habe ich auch noch den guten alten Jimmy verloren.«
»Das ist kein großer Verlust. Jimmy ist ein Looser. Ein rückgratloser Versager von der Southside… es gibt zahllose Jimmies auf der Welt.«
Moira rammte die bloßen Hände in die Tasche und schnupperte die eiskalte Luft. »Ich habe zu viel Zeit mit Ihnen verbracht, Oscar. Ich musste monatelang in Ihrer nächsten Nähe leben. Ich begreife nicht, weshalb ich immer noch zulasse, dass Sie mir Schuldgefühle einreden.«
Oscar wollte sich nicht von ihr provozieren lassen. Sie hatten den Bus an der Parteizentrale der Demokraten abgeliefert und unternahmen nun einen friedlichen Winterspaziergang zu seinem Haus in der Back Bay, den er sehr genoss. »Ich rede Ihnen keine Schuldgefühle ein. Ich verurteile Sie keineswegs. Ich war stets kooperativ und für Sie da. Oder etwa nicht? Ich habe nie ein Wort zu Ihnen und Bambakias gesagt.«
»Doch, das haben Sie! Sie haben Ihre großen schwarzen Augenbrauen hochgezogen.«
Oscar ertappte sich dabei, wie er die Brauen hob, und senkte sie sogleich wieder ab. Streit war ihm zuwider. Ein Streit brachte stets das Schlimmste in ihm zum Vorschein. »Hören Sie, das ist nicht meine Schuld. Er hat Sie eingestellt, nicht ich. Ich wollte Ihnen bloß auf taktvolle Weise klarmachen, dass Sie da eine Nummer abgezogen haben, die sich letztendlich als destruktiv erweisen musste. Das hätte Ihnen eigentlich klar sein müssen.«
»Ja, das wusste ich.«
»Das mussten Sie auch wissen! Eine Wahlkampfsprecherin, die Sex mit einem verheirateten Senator hat. Wie, um Himmels willen, sollte das gutgehen?«
»Also, Sex war es eigentlich nicht…« Moira wand sich unbehaglich. »Und damals war er auch noch nicht Senator! Als ich mich mit Alcott eingelassen habe, war er Außenseiterkandidat mit fünf Prozent Zustimmung. Sein Team bestand aus einem Haufen verschrobener Looser, und sein Manager war ein junger Spund, der noch nie einen Wahlkampf auf Landesebene geführt hatte. Die Lage war aussichtslos. Aber ich habe trotzdem bei ihm angeheuert. Ich mochte ihn einfach, so war das. Er hat mich durch seinen Charme gewonnen. Ich hielt ihn für einen naiven, brillanten, charmanten Typ. Er hat ein gutes Herz. Ja, wirklich. Er ist viel zu gut für einen gottverdammten Senatorenposten.«
»Dann sollte er das Rennen also verlieren, hab ich Recht?«
»Ja. Er sollte das Rennen verlieren, dann hätte ihn die Schlampe fallengelassen. Und irgendwie hab ich mir vorgestellt, dass ich dann auf ihn warten würde.« Moira fröstelte. »Hören Sie, ich liebe ihn. Ich habe wirklich hart für ihn gearbeitet Ich habe mich in ihn verliebt. Ich habe alles für ihn gegeben. Ich habe einfach nicht geglaubt, dass es mal so kommen würde.«
»Das tut mir leid«, sagte Oscar. »Dann ist es wirklich meine Schuld. Ich habe Ihnen nicht ausreichend klargemacht, dass ich wirklich vorhatte, den Mann in den Senat zu bringen.«
Moira verstummte, als sie sich einen Weg durch das Fußgängergewühl auf der Commercial Avenue bahnten. Die Bäume waren kahl und abweisend, doch die Weihnachtseinkäufer waren wie toll, eingemummt in Hüte, Jacken und Snow Boots, umgeben von einer Unzahl funkelnder Lichter.
Nach einer Weile sprach Lorena weiter. »Diese Seite von Ihnen bekommen die Leute nur selten zu sehen, nicht wahr? Unter dem Anzug sind Sie ein gemeiner, sarkastischer Bastard.«