Выбрать главу

»In Boston ist alles so anders«, sagte sie. »Woran liegt das?«

»An der Politik«, antwortete er. »Boston ist in der Hand der Ultrareichen. Und die Bostoner Reichen sind wohlmeinend – das ist entscheidend. Sie besitzen Bürgerstolz. Sie sind Patrizier.«

»Möchtest du, dass es im ganzen Land so aussieht? Saubere Straßen und totale Überwachung?«

»Ich will bloß, dass das Land funktioniert. Ich will, dass das System funktioniert. Mehr nicht.«

»Selbst wenn es dann elitär und vakuumverschweißt wäre?«

»Die Kritikerrolle steht dir nicht. Du lebst in einer hermetisch abgeschlossenen Welt. Und die ist sogar luftdicht.«

Alcott Bambakias’ Büro lag in einem fünfstöckigen Gebäude in der Nähe des Inman Square. Zunächst war darin eine Fabrik für Süßigkeiten untergebracht gewesen, dann ein portugiesischer Treffpunkt; jetzt gehörte es Bambakias’ internationaler Design- und Baufirma.

Sie bezahlten das Taxi und betraten das Gebäude. Oscar hängte Hut und Mantel auf einen Flaschenbaum à la Duchamp. Im Empfangsbereich im ersten Stock, wo sechs maßstabsgetreue Modelle von eleganten chinesischen Hochhäusern ausgestellt waren, warteten sie auf die Einlasserlaubnis. China war das letzte Land, das die grenzenlosen Möglichkeiten von Wolkenkratzern noch nutzte, und Bambakias war einer der wenigen amerikanischen Architekten, die den chinesischen Geschmack trafen. Bambakias hatte auf dem dortigen Markt gute Geschäfte gemacht. In Europa genoss er einen nicht minder sagenhaften Ruf, während er zu Hause eher mit Missgunst zu kämpfen hatte. Er hatte in Italien geschwungene Sportarenen entworfen, in Deutschland massive Deichanlagen, in der Schweiz eine Öko-Survival-Anlage… Auch für die Niederlande hatte er einige Aufträge abgewickelt, bevor der Kalte Krieg dem ein Ende setzte.

Leon Sosik tauchte auf, um sie zu eskortieren. Sosik war ein korpulenter Mann in den Sechzigern mit den Schultern eines Profiboxers, roten Hosenträgern und Seidenkrawatte. Sosik trug nur selten Hut, denn er war stolz auf sein schönes Haar – der Altersglatze hatte er erfolgreich getrotzt. Er musterte Oscar von oben bis unten. »Na, wie geht’s?«

»Wunderbar. Ich möchte Ihnen Dr. Greta Penninger vorstellen. Dr. Penninger, das ist Leon Sosik, der Stabschef des Senators.«

»Wir haben schon viel von Ihnen gehört, Doktor«, sagte Sosik und ergriff behutsam Gretas frisch manikürte Fingerspitzen. »Ich wünschte, wir wären uns unter anderen Umständen begegnet.«

»Was macht der Senator?«

»Es ging ihm schon mal besser«, sagte Sosik. »Al nimmt sich alles so zu Herzen. Sehr zu Herzen.«

»Aber er isst doch wieder?«

»Merken tut man davon jedenfalls nichts.«

Oscar war bestürzt. »Aber Sie haben doch gesagt, er würde essen. Der Hungerstreik ist vorbei. Der Senator sollte rohes Pferdefleisch verschlingen. Wieso, zum Teufel, isst er nicht?«

»Er sagt, er habe Magenschmerzen. Er sagt… also, er sagt viel. Ich muss Sie warnen, Sie dürfen im Moment nicht alles, was er sagt, für bare Münze nehmen.« Sosik seufzte schwer. »Vielleicht können Sie ihn ja wieder zur Vernunft bringen. Seine Frau meint, darauf verstünden Sie sich.« Sosik langte geistesabwesend in die Hosentasche. »Dr. Penninger, macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie auf Wanzen untersuche? Normalerweise erledigt das unser Sicherheitsexperte, aber der ist noch in Washington.«

»Das geht schon in Ordnung«, sagte Greta.

Sosik fuchtelte in der Luft herum wie ein Weihwasser versprengender Bischof, ohne etwas zu finden.

»Untersuchen Sie mich ebenfalls«, sagte Oscar. »Ich bestehe darauf.«

»Al war wochenlang verwanzt«, meinte Sosik, das Ritual wiederholend. »Sein Nervensystem war verwanzt, sein Kreislauf war verwanzt, sein Magen war verwanzt, seine Eingeweide waren verwanzt. Er hat CT- und PET-Untersuchungen veröffentlicht, er hat markierten Apfelsaft getrunken – seine Innereien waren ein gottverdammter öffentlicher Zirkus. Und als wir ihn endlich wieder abgenabelt hatten, ist er durchgedreht.«

»Der Hungerstreik hatte ein gewaltiges Presseecho, Leon. Das können Sie mir glauben.«

Sosik legte den Scanner weg. »Klar, aber was ist mit diesem Irrenhaus in Louisiana? Wie, zum Teufel, ist das auf die Agenda gekommen? Al ist Architekt! Wir hätten bei den öffentlichen Bauten bleiben sollen, dann wäre alles in Butter.«

»Sie haben sich von ihm beschwatzen lassen«, sagte Oscar.

»Ich hab gewusst, dass das eine beknackte Idee war! Aber… Na ja, Al fand das in Ordnung. Al ist der Typ, der mit sowas durchkommt.«

Sosik geleitete sie in einen Aufzug aus Glas und Plastik. Bambakias hatte das ehemalige vierte Stockwerk entkernen lassen. Zurückgeblieben war ein höhlenartiger Raum mit freiliegenden Wasserleitungen, Belüftungsrohren und Aufzugkabeln, alles geschmackvoll mandarinfarben, türkis, apfelsinenfarben und preußischblau überpinselt.

Fünfunddreißig Personen lebten in den Büros, Bambakias persönlicher Mitarbeiterstab. Das Ganze war gleichzeitig Wohnung wie auch Atelier. Sosik führte sie an ergonomischen Bürostühlen, tablettartigen Präsentationstischen aus Kevlar und zuckenden Haufen cybernetischer Bauelemente vorbei. Draußen war es kalt, daher wurden die porösen Fußbodenmembranen von leise zischendem Dampf erwärmt.

Ein Büro in einer Ecke diente gleichzeitig als Medienraum und als medizinisches Zentrum. Die Überwachunsgeräte arbeiteten momentan nicht und säumten die Wände, die Bildschirme aber leuchteten lautlos und wechselten immer wieder die Anzeige.

Der Senator lag bäuchlings und nackt auf einem Massagetisch, den Steiss mit einem Handtuch bedeckt. Ein Masseur bearbeitete seinen Hals und seine Schultern.

Oscar war schockiert. Er hatte gewusst, dass Bambakias bei dem radikalen Hungerstreik eine Menge Gewicht verloren hatte, doch was das physisch für den Senator bedeutete, war ihm bislang nicht bewusst gewesen. Bambakias wirkte um zehn Jahre gealtert. Die Haut umschlotterte ihn wie ein zu weiter Overall.

»Schön, Sie zu sehen, Oscar«, sagte Bambakias.

»Ich möchte Ihnen Dr. Penninger vorstellen«, sagte Oscar.

»Nicht schon wieder eine Ärztin«, stöhnte der Senator.

»Dr. Penninger ist staatlich angestellte Wissenschaftlerin.«

»Ah, ja, natürlich.« Bambakias setzte sich auf und rückte das Handtuch zurecht. Seine Hand erinnerte an feuchtes Reisig. »Das reicht, Jackson… Bringen Sie meinen Freunden… was haben wir denn da? Bringen Sie ihnen Apfelsaft.«

»Wir könnten ein richtiges Mittagessen vertragen«, sagte Oscar. »Ich habe Dr. Penninger Bostoner Fischsuppe versprochen.«

Bambakias blinzelte; seine Augen lagen tief in den Höhlen und hatten farblose Ränder. »Mein Küchenchef ist in letzter Zeit etwas aus der Übung.«

»Soll das heißen, er kann keine Fischsuppe mehr machen?« scherzte Oskar. »Wie ist das möglich? Ist er vielleicht tot?«

Bambakias seufzte. »Jackson, sorgen Sie dafür, dass dieser fette Wahlkampfmanager seine gottverdammte Fischsuppe bekommt.« Bambakias blickte auf seine welken Hände nieder, studierte ihr Zittern mit großem Interesse. »Worüber haben wir gerade gesprochen?«

»Dr. Penninger und ich würden uns gern mit Ihnen über Wissenschaftspolitik unterhalten.«

»Natürlich. Dann ziehe ich mich mal an.« Bambakias eilte auf seinen knochigen Füßen zu einem beiseite gleitenden Wandschirm und schlüpfte durch die Öffnung. Man hörte, wie er mit schwacher Stimme nach seiner Imageberaterin rief.

Ein Rüschenvorhang hob sich wie ein Augenlid und ließ durch die dahinter liegenden Glasblöcke hellen winterlichen Sonnenschein ein. Das Eckbüro war ein kleines Wunder an Luftigkeit und Helligkeit; obwohl er halb leer war, wirkte der Raum gleichwohl vollständig und komplett.

Ein kleiner pelziger Roboter betrat das Büro mit ein paar Plastikpaketen in den Schlaucharmen. Er legte die Pakete behutsam auf dem Teppich ab und ging wieder hinaus.