»Nein, du brauchst nicht zurückzutreten. Bei deiner Rede geht es um deren Rücktritt.« Oscar berührte ihre Hand. »Du brauchst nichts zu sagen, was nicht der Wahrheit entspricht.«
»Also, ich weiß, dass einiges davon wahr ist, weil ich es dir selbst anvertraut habe. Ich hätte es bloß niemals laut ausgesprochen. Und nicht in dieser Form. Diese Rede oder diese Polemik oder was auch immer – das ist ein heftiger politischer Angriff! Das ist unwissenschaftlich. Das ist nicht objektiv.«
»Dann lass uns über die Formulierungen reden. Schließlich bist du die Rednerin – du musst das Publikum erreichen, nicht ich. Lass uns die einzelnen Argumente noch einmal durchgehen.«
Sie scrollte gereizt auf und ab und seufzte. »Na schön. Ich glaube, das hier ist das Schlimmste. Die Sache mit den Wissenschaftlern als unterdrückte Klasse. ›Eine Gruppe, deren Ausbeutung man endlich zur Kenntnis nehmen und beenden sollte.‹ Wissenschaftler, die sich solidarisch erheben und Gerechtigkeit fordern – mein Gott, das kann ich doch nicht sagen! Das ist zu radikal, das klingt verrückt!«
»Aber du gehörst einer unterdrückten Klasse an. Das ist die Wahrheit, das ist die zentrale, drängende Wahrheit deiner Existenz. Irgendwann hat die Wissenschaft den falschen Weg eingeschlagen, die ganze Unternehmung ist zum Teufel gegangen. Du hast deinen angestammten Platz in der Gesellschaft verloren. Du hast dein Prestige verloren, deine Selbstachtung und die Wertschätzung, die Wissenschaftler in der Öffentlichkeit einmal genossen haben. Man stellt vollkommen unerfüllbare Forderungen an dich. Du genießt keine intellektuelle Freiheit mehr. Du lebst in intellektuellen Fesseln.«
»Deswegen sind wir aber noch lange keine ›unterdrückte Klasse‹. Wir sind eine Elite hervorragend ausgebildeter Experten.«
»Na und? An deiner Lage ist doch was faul! Du kannst nicht frei über deine Forschungsarbeit entscheiden. Du hast keinen Einfluss auf die Finanzen. Du hast kein vernünftiges Einkommen und keine Jobsicherheit. Deine traditionelle Hochkultur wurde von Ignoranten und Finanzjongleuren ruiniert, die es auf das schnelle Geld abgesehen haben. Sicher, du gehörst der technischen Intelligenz an, aber du wirst von korrupten Politikern beschissen, die sich auf deine Kosten die Taschen füllen.«
»Wie kannst du sowas sagen? Guck dir doch nur mal diese erstaunliche Anlage an, in der wir leben!«
»Du glaubst, das wäre der Elfenbeinturm, Schatz. In Wirklichkeit seid ihr Slumbewohner.«
»Aber niemand denkt so wie du!«
»Das liegt daran, dass ihr euch seit Jahren etwas vormacht. Du bist smart, Greta. Du hast Augen und Ohren. Überleg mal, was du durchgemacht hast. Überleg mal, was für ein Leben deine Kollegen führen müssen. Streng deinen Grips etwas mehr an.«
Sie schwieg.
»Nur zu«, sagte er. »Lass dir Zeit, denk drüber nach.«
»Es stimmt. Es ist wahr, und es ist schrecklich, und ich schäme mich sehr deswegen und finde es grässlich. Aber dafür ist die Politik verantwortlich. Da kann niemand etwas daran ändern.«
»Darum werden wir uns kümmern«, sagte er. »Befassen wir uns mit der Rede.«
»Okay.« Sie rieb sich die Augen. »Also, das ist wirklich ein schlimmer, schmerzhafter Punkt. Senator Dougal. Ich kenne ihn, ich bin ihm schon oft begegnet. Er trinkt zu viel, aber das tut heute jeder. So schlecht ist er gar nicht.«
»Die Menschen können sich nicht gegen Abstraktionen verbünden. Man muss den Problemen ein Gesicht geben. So schafft man Einigkeit. Man muss ein Ziel auswählen, es festhalten, personalisieren und polarisieren. Dougal ist nicht dein einziger Gegner, aber mach dir deswegen keine Sorgen. Sobald du ihn festnagelst, werden die anderen schon aus ihren Schlupflöchern hervorkommen.«
»Aber er hat das alles gebaut, er hat das ganze Laboratorium erbaut!«
»Er ist ein Gauner. Das wissen wir mittlerweile ganz genau. Solange er an der Macht war, hat es niemand gewagt, ihn zu kreuzigen. Jetzt aber, da er untergeht, verlassen die Ratten das sinkende Schiff. Die Schmiergelder, die Geldwäsche… Du bist für die Geräteabteilung verantwortlich. Dougal und seine Spezis haben jahrelang den Rahm abgeschöpft. Du hast die gesetzliche und moralische Verpflichtung, ihn dir vorzuknöpfen. Und das Schönste dabei ist, der Angriff auf Dougal ist politisch ohne Risiko. Er kann sich nicht dagegen wehren. Dougal ist das kleinste Problem.« Oscar zögerte. »Wegen Huey mache ich mir Sorgen.«
»Ich begreife nicht, weshalb ich fies sein soll.«
»Du brauchst ein Thema, und unkontroverse Themen gibt es nicht. Jemanden lächerlich zu machen, ist die schärfste Waffe des Radikalen. Die Mächtigen vertragen alles, bloß nicht verspottet zu werden.«
»Das liegt mir einfach nicht.«
»Versuch’s doch einfach mal. Betrachte es als Experiment. Lass ein paar Spitzen vom Stapel, dann wirst du schon sehen, wie das Publikum reagiert.«
Sie schniefte. »Das sind Wissenschaftler. Die lassen sich nicht als Partisanen missbrauchen.«
»Natürlich sind sie Wissenschaftler. Wissenschaftler kämpfen wie in die Enge getriebene Wiesel. Halte dir doch mal deinen eigenen Werdegang hier im Labor vor Augen! Als Dougal die Anlage gebaut hat, musste er sich eine Menge Gefallen erkaufen. Er brauchte die Stimmen der christlichen Fundamentalisten, um in Osttexas, dem Bibelgürtel, ein riesiges Genlabor bauen zu können. Deshalb hatte das Labor auch seine eigene Forschungsabteilung für Schöpfungswissenschaft. Die hat sich sechs Wochen gehalten! Es gab handgreifliche Auseinandersetzungen, Aufstände, Brandstiftung! Man musste die Texas Rangers rufen, um die Ordnung wiederherzustellen.«
»Ach, die Sache mit den Kreationisten war gar nicht so schlimm.«
»Doch, das war sie! Ihr in eurer geschlossenen Gesellschaft habt die Erinnerung daran bloß verdrängt, weil es zu peinlich war. Und das ist längst noch nicht alles. Im folgenden Jahr kam es zu einer Massenschlägerei mit den Einwohnern von Buna, zu regelrechten Unruhen… Haarig wurde es während des Wirtschaftskriegs. Die Regierung veranstaltete eine Hexenjagd auf ausländische Wissenschaftsspione, es herrschte Hyperinflation, und die Forscher ernährten sich von Brotkrumen… Weißt du, ich bin kein Wissenschaftler wie du. Ich brauche nicht blindlings zu glauben, Wissenschaft sei stets ein nobles Unterfangen. Ich sehe mir die Dinge genauer an.«
»Also, ich bin kein Politiker wie du. Deshalb habe ich’s auch nicht nötig, ständig hässliche Skandale auszugraben.«
»Schatz, wir müssen uns irgendwann mal über das Goldene Zeitalter des zwanzigsten Jahrhunderts unterhalten – über Lyenko, der behauptete, erworbene Eigenschaften würden vererbt, und über Atomspione, Naziärzte und Strahlenexperimente. In der Zwischenzeit aber sollten wir uns mit deiner Rede befassen.«
Greta blickte auf ihren Laptop. »Es wird einfach immer schlimmer. Du willst, dass ich das Budget beschneide und Leute entlasse.«
»Das Budget muss beschnitten werden. Und zwar drastisch. Es muss Entlassungen geben. Und zwar jede Menge. Das Labor existiert seit sechzehn Jahren, da hat sich eine Menge bürokratischer Ballast angesammelt. Lös die Spin-off-Abteilung auf, die ist von lauter Dougal-Spezis besetzt. Entlass die Schmarotzer von der Beschaffungsabteilung und sorge dafür, dass die Forscher wieder über die Mittel entscheiden. Vor allem aber solltest du die Polizei feuern.«
»Die Polizei kann ich nicht feuern. Das ist verrückt.«
»Die Polizei muss so rasch wie möglich verschwinden. Stell deine eigene Polizei ein. Wenn du keine Kontrolle über die Polizei hast, bist du von ihr abhängig. Die Polizei ist die Grundlage jeder Gesellschaft, und wenn sie nicht auf deiner Seite steht, hast du auch keine Macht. Huey weiß das. Deshalb hat Huey über die Sicherheitskräfte im Labor das Sagen. Auch wenn sie von der Unionsregierung bezahlt werden, hat er sie doch alle in der Tasche.«