»Gebieter, ich denke, daß ich wirklich nicht…«
»Du sollst nicht denken. Tu einfach, was ich dir sage.«
Murrend hinkte Frike ins Zentrum des Pentagramms.
»Ich schicke dich nach Athen. Sammle so viele Kleidungsstücke wie möglich von dieser Dame zusammen. In ein paar Minuten hole ich dich wieder zurück.«
»Da ist ein dunkelblaues Kleid mit Pelzkragen im Ankleidezimmer«, warf Ylith ein. »Das mit den dreiviertellangen Ärmeln. Achte bitte darauf, daß du das mitbringst. Und in dem kleinen Schränkchen neben der Küche…«
»Ylith!« unterbrach Azzie ihren Wortschwall. »Wir können später mehr Kleidung besorgen, falls es nötig werden sollte. Im Augenblick habe ich es ziemlich eilig.«
Er hob die Hände und intonierte einen Zauberspruch. Frike verschwand mitten in einem gemurmelten Protest.
»Schön, jetzt sind wir allein«, sagte Ylith. »Azzie, warum hast du mich nicht schon früher gerufen? Es muß Jahrhunderte her sein, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben!«
»Ich war in der Grube«, erklärte er. »Da habe ich völlig das Zeitgefühl verloren.«
Er geleitete sie zu dem großen Sofa, das vor dem Kamin stand und brachte ihr Wein und einen Teller mit kleinen Kuchen, die sie mochte, wie er sich erinnerte. Sie ließen sich auf dem Sofa nieder, und Azzie wandte einen kleineren Zauber an, mit dem er zur Zeit beliebte Melodien erklingen ließ. Dann blickte er ihr tief in die Augen.
»Ylith«, sagte er, »ich habe ein Problem.«
»Erzähl mir davon«, forderte sie ihn auf.
Das tat er, und er war so tief in seinen Ausführungen versunken, daß er Frike mehrere Stunden lang vergaß. Als er ihn schließlich zurückholte, dämmerte bereits der Morgen, und sein Diener tauchte gähnend auf, über und über mit Frauenkleidern behangen.
KAPITEL 5
Azzie führte Ylith in das Laboratorium, wo der Märchenprinz und Prinzessin Rosenrot, mittlerweile vollkommen hergestellt, Seite an Seite auf Marmortafeln lagen. Azzie hatte Leinentischdecken über sie ausgebreitet, da er festgestellt hatte, daß leichtbekleidete Menschen besser als gar nicht bekleidete aussahen.
»Sie geben ein hübsches Paar ab, nicht wahr?« fragte er.
Ylith seufzte. Ihr längliches, ausdrucksstarkes Gesicht war einen Moment lang wunderschön, im nächsten wieder finster. Azzie versuchte, seine Wahrnehmung so einzustellen, daß er nur ihre schöne Seite sah, aber das war ziemlich schwer, denn Hexen besitzen einen verborgenen Gesichtszyklus. Seit langem schon empfand Azzie zwiespältige Gefühle für Ylith. Manchmal glaubte er, sie zu lieben, manchmal haßte er sie. Manchmal hatte er versucht, das Problem durch einen Frontalangriff zu lösen, dann wieder hatte er es vorgezogen, es zu verdrängen, indem er sich einfacheren Problemen zugewandt hatte, zum Beispiel der Frage, wie er am bestes Böses tun und die allgemeine Schlechtigkeit der Welt noch vergrößern konnte. Manchmal – und das war meistens der Fall – wußte er nicht, was er tun sollte. Er liebte Ylith, auch wenn er sie nicht immer mochte. Aber gleichzeitig war sie seine beste Freundin, und wenn er ein Problem hatte, wandte er sich damit an sie.
»Sie sind wirklich niedlich«, stimmte Ylith ihm zu, »von den fehlenden Augen einmal abgesehen. Aber das weißt du selbst.«
»Aus diesem Grund habe ich sie dir gezeigt«, erklärte Azzie. »Ich habe dir bereits erzählt, daß ich sie in den Jahrtausendwettkampf schicken werde. Sie werden die Geschichte vom Märchenprinzen ganz allein spielen, ohne Druck von meiner Seite, indem sie sich des berühmten freien Willens bedienen, den angeblich alle intelligenten Geschöpfe besitzen. Und sie werden die falschen Schlüsse treffen und sich für alle Ewigkeit selbst verdammen. Aber ich brauche Augen für sie, allerdings nicht irgendwelche, sondern ganz besondere Augen. Verzauberte Augen. Ich brauche sie, um der Geschichte eine besondere Note zu verleihen – diese Märchenatmosphäre, wenn du weißt, was ich meine.«
»Ich verstehe dich nur zu gut, mein Schatz«, erwiderte Ylith. »Und du möchtest, daß ich dir helfe? Oh, Azzie, was bist du nur für ein Kind! Was hat dich denn auf die Idee gebracht, daß ich Augen für dich suchen würde?«
Darüber hatte Azzie noch gar nicht nachgedacht. Er kratzte sich am Kopf – Schuppen, die holte man sich jedes Mal in der Grube – und überlegte.
»Ich dachte, du würdest einverstanden sein, weil es richtig ist, das zu tun«, sagte er. »Ich meine, du möchtest doch genau wie ich, daß das Böse siegt, oder? Stell dir vor, das Gute würde für die nächsten tausend Jahre das Schicksal der Menschheit bestimmen; das könnte auch dich aus dem Geschäft drängen.«
»Da hast du einen Punkt«, gab Ylith zu, »aber der überzeugt mich nicht ganz. Warum sollte ich dir helfen? Ich habe mein eigenes Leben und andere Aufgaben vor mir. Ich habe administrative Pflichten in der Hexenversammlung, und ich gebe Unterricht…«
Azzie tat einen geistigen Atemzug, wie er es immer machte, bevor er eine seiner wirklich großen Lügen vom Stapel ließ. Und während er geistig Luft holte, halfen ihm sein Genie und all seine Fähigkeiten, in die Rolle zu schlüpfen, – von der er wußte, daß sie jetzt erforderlich war.
»Es ist ganz einfach, Ylith«, sagte er. »Ich liebe dich.«
»Oh, sicher!« erwiderte sie verächtlich, aber nicht so, daß sie damit das Gespräch beendete. »Das ist einfach großartig! Erzähl nur mehr davon!«
»Ich habe dich immer geliebt«, versicherte Azzie.
»Was du durch dein Verhalten ja zur Genüge bewiesen hast, nicht wahr?« fragte Ylith.
»Ich kann dir erklären, warum ich mich nie gemeldet habe«, behauptete Azzie.
»Darauf würde ich wetten!« konterte Ylith. Sie wartete.
»Es gibt zwei Gründe«, begann Azzie, der im Augenblick noch keine Ahnung hatte, welche Gründe das waren. Aber für den Fall, daß ein Grund nicht ausreichte, wollte er lieber gleich zwei parat haben.
»So? Dann laß mal hören!«
»Ich habe dir bereits erzählt, daß ich in der Grube war.«
»Und du hättest mir nicht wenigstens eine Postkarte schicken können? Diese ›Ich-war-in-der-Grube‹-Ausrede habe ich schon einmal gehört!«
»Ylith, du mußt mir ganz einfach glauben. Es gibt gewisse Dinge, über die ein Mann nicht sprechen kann. Aber ich gebe dir mein Wort, es haben sich bestimmte Dinge ereignet. Ich könnte dir alles erklären, wenn wir Zeit hätten, aber das Wichtigste ist, daß ich dich liebe. Der böse Zauberbann ist endlich verflogen, und wir können wieder Zusammensein, so wie du es immer gewollt hast und wie ich es insgeheim auch gewollt habe, auch wenn ich früher vielleicht einmal etwas anderes behauptet habe.«
»Was für ein Zauberbann?« wollte Ylith wissen.
»Hast du gerade einen Zauberbann erwähnt?«
»Du hast gesagt: ›Der böse Zauberbann ist endlich verflogen.‹«
»Habe ich das gesagt? Bist du dir sicher?«
»Natürlich bin ich mir sicher!«
»Also, das hätte ich nicht sagen dürfen«, sagte Azzie. »Eine Bedingung für die Beendigung des bösen Zauberbanns war es, daß ich nie darüber reden sollte. Ich hoffe nur, wir haben ihn jetzt nicht wieder ausgelöst.«
»Was für ein Zauberbann?«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
Ylith richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und blickte Azzie finster an. Er war wirklich ein unmöglicher Dämon. Natürlich erwartet man von einem Dämon, daß er log, aber selbst der schlimmste Dämon sagt hin und wieder die Wahrheit. Es ist fast unmöglich, nicht ab und zu schon allein aus Versehen die Wahrheit zu sagen. Sah man einmal von Azzie ab. Was jedoch nicht daran lag, daß er im Grunde seines Herzens ein Lügner war. Nein, es lag vielmehr daran, daß er sich so sehr bemühte, besonders böse zu sein. Trotzdem konnte sie nicht anders, als ihn gern zu haben. Sie fühlte sich noch immer zu ihm hingezogen. Und es war nicht gerade die amüsanteste Zeit in Athen.
»Versprich mir, daß du mich nie mehr verlassen wirst«, verlangte sie.