»Ich verspreche es«, gab Azzie zurück. Dann wurde ihm klar, daß er zu schnell klein beigegeben hatte, und er fügte hinzu: »Das heißt, unter normalen Umständen.«
»Was meinst du mit normalen Umständen?«
»Umstände, die nicht anormal sind.«
»Und die wären?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Oh, Azzie!«
»Du mußt mich so nehmen, wie ich bin, Ylith«, sagte Azzie. »Ich freue mich wirklich, dich wiederzusehen. Hast du irgendeine Idee wegen dieser Augen?«
»Ja, ich habe tatsächlich die eine oder andere.«
»Dann sei ein Schatz, mach dich auf den Weg und hol sie«, bat Azzie. »Mir geht allmählich die Jauche aus, und ich wage es nicht, meine beiden Geschöpfe aufzuwecken, bevor ich Augen für sie habe. Das könnte ihre gesamte Entwicklung verändern.«
»Dann werden sie eben warten müssen«, erwiderte Ylith. »Zwei besondere Augenpaare lassen sich nicht einfach im Handumdrehen auf treiben.«
»Wir alle werden auf deine Rückkehr warten, meine Königin!« versicherte Azzie.
Ylith stieß ein rauhes Lachen aus, aber Azzie konnte heraushören, daß sie es genoß, wenn er solche Dinge sagte. Er winkte ihr zu. Ylith wirbelte auf der Stelle herum, löste sich in eine rotierende violette Rauchsäule auf und verschwand dann gänzlich.
KAPITEL 6
Viele Jahre lang war sie damit zufrieden gewesen, in Athen herumzufaulenzen, es sich gutgehen zu lassen, sich auf Parties zu amüsieren, viele Liebhaber zu haben und ihr Haus neu einzurichten. Mit der Zeit werden Hexen träge und neigen dazu, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen. Die Sünden, zu denen sie die Menschen zu verführen versuchen, schlagen später auf sie selbst zurück. Schritt um Schritt verlieren sie ihr Wissen und vergessen, was sie in den großen Hexenschulen gelernt haben. Bevor sie von Azzie herbeigerufen worden war, hatte Ylith lange Zeit nur so vor sich hinvegetiert.
Jetzt staunte sie selbst über ihre Bereitschaft, Augen für das junge Paar zu suchen. War es wirklich das, was sie tun wollte? Liebte sie Azzie so sehr? Oder lag es eher daran, daß sie sich nach einer Aufgabe sehnte, danach, einem höheren Zweck als nur ihrem eigenen Wohlbefinden zu dienen? Was auch immer der Grund sein mochte, sie verspürte das Bedürfnis, sich Rat zu holen, als es darum ging, das zweite Augenpaar zu besorgen.
Und der weiseste Ratgeber, den sie kannte, war Skander…
Drachen sind langlebige Geschöpfe, und schlaue Drachen leben nicht nur besonders lange, sie wechseln auch von Zeit zu Zeit den Namen, damit die Menschen nicht herausfinden, wie alt sie werden, und ihnen voller Eifersucht nachstellen. Es gibt nichts, was ein Held lieber töten würde, als einen wirklich alten Drachen. Das Alter eines erlegten Drachen ist vergleichbar mit der Anzahl der Geweihenden eines Hirsches.
Skander und die anderen Drachen hatten erkannt, wie viele Helden ihnen nachstellten, und so waren sie immer vorsichtiger geworden. Die alten Zeiten, als sie herumgelümmelt, Schätze bewacht und sich auf jeden gestürzt hatten, der des Weges kam, waren längst vorbei. Zwar hört man immer nur von den Siegen der Helden im Kampf Mann gegen Drache, aber auch die Drachen hatten sich auf dieses Spiel gut verstanden. Es gab eine Menge Siege auf Seiten der Drachen, doch ihre Zahl war vergleichsweise klein, während es einen endlosen Nachschub an Helden gab. Die Helden griffen unablässig an, bis die Drachen des ganzen Spiels endlich überdrüssig geworden waren.
Sie hielten eine große Zusammenkunft ab, auf der viele Meinungen zur Sprache kamen. Damals stellten die chinesischen Drachen die größte Bevölkerungsgruppe, aber sie hüteten ihre Weisheit so eifersüchtig vor den anderen Drachen, daß sie, um ihren Rat gefragt, nur solche Sprüche von sich gaben wie: ›Fördernd ist es, den weisen Mann aufzusuchen‹, oder ›Man soll das Wasser überqueren‹, oder ›Der Edle ist wie der Sand‹. Und die chinesischen Philosophen, die eine Vorliebe für das Undurchsichtige hatten, sammelten diese Ratschläge in Büchern und verkauften sie westlichen Weisheitssuchern.
Der Beschluß, der am Ende der Konferenz getroffen wurde, lautete, sich den Zwängen der Notwendigkeit zu beugen, einige der aggressiveren Taktiken aufzugeben, die zu dem schlechten Image der Drachen geführt hatten, und sich unauffällig zu verhalten. Die Drachen beschlossen einstimmig, die uralten Disziplinen des Jagens und Bewachens durch die des Versteckens und Ausweichens zu ersetzen. Steht nicht einfach in der Gegend herum und bewacht Schätze, rieten sie einander. Verschmelzt mit der Landschaft, lebt auf dem Grund von Flüssen – denn viele Drachen konnten unter Wasser leben, die sogenannten Kiemendrachen, die sich von Haien, Killerwalen und Mahimahi ernährten. Die Landdrachen mußten sich eine andere Strategie zulegen. Sie versteckten sich in kleinen Bergen, Hügeln und sogar in Baumstämmen, gaben ihre ursprüngliche Wildheit auf und begnügten sich damit, hin und wieder einen Jäger zu erlegen, der in ihr Revier eindrang. Ab und zu kehrte ein Drache zu seinem früheren Verhalten zurück, woraufhin er unweigerlich gejagt und schließlich getötet wurde. Dann wurde sein Name in der Heldenhalle der Drachen verzeichnet, und den anderen wurde anhand seines Beispiels empfohlen, sich nicht wie er zu benehmen.
Skander war selbst nach Drachenmaßstäben alt. Deshalb war er auch besonders gerissen und hielt sich von jeglichem Ärger fern. Er lebte in Zentralasien, irgendwo in der Nähe von Samarkand, und er war schon vor dem Entstehen der Stadt dort gewesen. Wenn er nicht gefunden werden wollte, hätte man ihn jahrhundertelang suchen können, ohne ihn jemals zu Gesicht zu bekommen. Wer ihn jedoch aufspürte, fand einen meistens hilfreichen Drachen von großer Weisheit. Allerdings war er auch launisch und neigte zu Stimmungsumschwüngen.
Das alles war Ylith bekannt, aber sie mußte es trotzdem auf einen Versuch ankommen lassen. Sie suchte ein Bündel Hochleistungsbesen von der Sorte zusammen, mit der man fliegen konnte. Diese Besen waren die größte Errungenschaft der Hexen. Sie wurden mit Zaubersprüchen betrieben, die von der in Byzanz ansässigen Schwesternschaft der Hexen zusammengestellt wurden. Die Kraft der Zaubersprüche verlief allerdings in Zyklen, wodurch sie im einen Jahr sehr mächtig, im nächsten dagegen nicht so mächtig waren. Zaubersprüche unterlagen den Naturgesetzen, aber da diese nicht genau verstanden wurden, kam es gelegentlich zu Ausfällen.
Der logischste Ausgangspunkt ihrer Suche schien Ylith der Ort zu sein, an dem sie Skander das letzten Mal gesehen hatte: der Drachenfels. Drachen sind klug genug, um zu wissen, daß die Menschen sie nie an einem Ort namens Drachenfels suchen würden.
Viele Helden waren durch diese Gegend geritten, die meisten mit den dort gebräuchlichen leichten Krummschwertern bewaffnet, die sowieso nichts gegen einen Drachen hätten ausrichten können. Aber Skander hätte trotzdem nicht versucht, sich mit diesen Leichtgewichten anzulegen. Seine sich überlappenden Schuppen konnten selbst der Gewalt einer Lawine standhalten, und er machte sich keine Sorgen wegen Schwertern, solange sie nicht durch wirklich starke Zauber verstärkt wurden. Aber die Menschen waren hinterlistige Geschöpfe: Einen Moment lang sah es so aus, als würden sie einem auf die Schulter zielen, und – zack – im nächsten Moment hatte man einen Pfeil im Auge. Trotz ihrer außerordentlich hohen Intelligenz und ihrer jahrhundertelangen Erfahrung neigten Drachen ständig dazu, Pfeile in die Augen zu bekommen. Sie hatten den Trick der Menschen, scheinbar in die eine Richtung zu zielen und dann doch eine andere zu wählen, nie vollkommen durchschaut. Dieses Verhalten widersprach ganz einfach der Kampfpraxis der Drachen und ihrer Vorstellung von der Ethik eines Kriegers.
Aus irgendeinem Grund hatte Ylith Skander am Drachenfels getroffen, als sie bei Verwandten zu Besuch gewesen war, die erst kürzlich von Skythien dorthin gezogen waren. Damals hatte sich Skander eines seltenen Gestaltwandelzaubers bedient, auf den er gestoßen war. Drachen sind immer auf der Suche nach Gestaltwandelzaubern, denn als intelligente Geschöpfe sehnen sie sich danach, sich unter die Menschen zu mischen. Auch wenn die Menschen davon nichts wissen, haben sich Drachen in menschlicher Gestalt an vielen herrschaftlichen Höfen der Erde aufgehalten, weil sie dort ihrer Leidenschaft frönen können, mit Philosophen zu diskutieren. Noch häufiger aber liegt der Grund für ihre Ausflüge in die Menschenwelt einfach daran, daß sie der jahrelangen Einsamkeit überdrüssig sind. Was sie so einsam macht, ist ihr Mißtrauen dem jeweils anderen Geschlecht gegenüber. Das, und nicht etwa mangelnde Gelegenheiten oder fehlende Lüsternheit, ist auch die Erklärung dafür, warum sich Drachen so selten paaren und noch seltener Junge bekommen. Bei Drachen gibt es keine festgelegten Regeln, welches Elternteil für die Erziehung der Kinder verantwortlich ist. Es besteht nicht einmal eine Übereinkunft darüber, wer sie gebären soll. Die Drachen haben diese instinktiven Verhaltensformen schon vor Jahrhunderten überwunden. Als vernunftbegabte Geschöpfe, die sie mittlerweile geworden waren, stritten sie sich ständig über solche Fragen. Es wird behauptet, daß im Zuge der Klärung dieser Streitfragen ein großer Teil der Drachenpopulation ausgelöscht wurde.