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Aber sie wußte bereits, was zu tun war.

Als sie es erledigt hatte, streichelte sie die Nase des toten Drachen, eine Berührung, die er zu Lebzeiten gern gehabt hatte. Armer alter Drache! dachte sie. So alt und weise und nun doch nicht mehr als ein Haufen erkaltenden Fleisches in einer Berghöhle.

Sie wußte, daß bald die Nacht hereinbrechen würde, und das war keine gute Zeit, wenn man sich in einem fremden Land befand. Die einheimischen Dämonen würden unterwegs sein, und sie könnten erheblichen Ärger machen, wenn ihnen der Sinn danach stand. In diesen Tagen herrschte kein gutes Verhältnis zwischen den europäischen und den asiatischen Dämonen, und die Kriege zwischen ihnen warten noch immer auf ihren Chronisten.

Ylith wickelte die Augen in ein kleines Seidentaschentuch und verstaute sie in einem Rosenholzkästchen, das sie stets für den Transport von zerbrechlichen oder kostbaren Gegenständen mit sich trug. Dann drehte sie sich um und verließ die Höhle.

Draußen angekommen, stand sie hochaufgerichtet da, während das Licht der untergehenden Sonne von den vereisten Gipfeln der höchsten Berge reflektiert wurde. Sie warf die Mähne ihres herrlichen schwarzen Haars zurück, bestieg ihren Hochleistungsbesen und flog nach Westen davon. Unter ihr schrumpfte das Land des Drachen zusammen.

KAPITEL 7

Als Ylith Augsburg erreichte, herrschte noch immer Tageslicht, denn mit Hilfe eines günstigen Rückenwindes war es ihr gelungen, der Sonne selbst ein Schnippchen zu schlagen. Sie landete vor dem Haupteingang von Azzies Anwesen und schlug heftig mit dem Messingklopfer gegen die Tür. »Azzie! Ich bin zurück! Ich habe sie!«

Totenstille antwortete ihr. Obwohl es ein Sommernachmittag war, lag Kälte in der Luft. Ylith verspürte eine leichte Nervosität. Ihre Hexensinne verrieten ihr, daß hier irgend etwas nicht stimmte. Sie berührte das Schutzamulett aus Bernstein, das sie um den Hals trug, und klopfte erneut.

Endlich wurde die Tür geöffnet. Vor ihr stand Frike, das magere Gesicht zu einer kummervollen Miene verzerrt.

»Frike! Was ist los?«

»Ach, Gebieterin! Es ist etwas Schreckliches passiert!«

»Wo ist Azzie?«

»Das, Herrin, ist ja das Schreckliche. Er ist nicht hier.«

»Nicht hier? Wo ist er dann?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Frike, »aber es war nicht meine Schuld.«

»Erzähl mir, was passiert ist.«

»Vor ein paar Stunden«, begann Frike, »hat der Meister eine Lösung zubereitet, um das Haar von Prinzessin Rosenrot zu waschen, weil es schmutzig und verfilzt war. Als er damit fertig war, habe ich ihr Haar getrocknet. Ich erinnere mich, daß es kurz nach Mittag war, denn die Sonne stand hoch und heiß am Himmel, als ich hinausgegangen bin, um Feuerholz zu holen…«

»Erzähl weiter«, ermunterte Ylith ihn. »Was ist dann passiert?«

»Als ich mit dem Feuerholz zurückkam, summte der Gebieter eine fröhliche Melodie, während er dem Märchenprinzen die Fingernägel schnitt – Ihr wißt ja, daß er sich immer sehr viel Mühe mit den Details macht. Plötzlich hörte er auf zu summen und blickte sich um. Ich blickte mich ebenfalls um, obwohl ich nichts gehört hatte. Der Meister drehte sich einmal im Kreis herum, und ich könnte schwören, daß er nicht mehr der gleiche Dämon war, als er mich wieder ansah. Sein Haar hatte etwas von seinem Glanz verloren, und er war blaß geworden. Ich fragte ihn: ›Habt Ihr etwas gehört, Herr?‹, und er sagte: ›Ja, ein scharfes Geräusch, und das wird mir nichts Gutes bringen. Schnell, hol mir das Große Buch der Zaubersprüche!‹ Und während er das sagte, sank er auch schon in die Knie. Ich rannte los, um seinen Befehl auszuführen. Er hatte nicht mehr die Kraft, das Buch zu öffnen – es ist das sehr große in Messing gebundene Buch, das dort vor Euren Füßen liegt. ›Frike, hilf mir, die Seiten umzublättern‹, sagte er. ›Irgendein heimtückischer Schwächezauber entdämonisiert mich.‹ Ich half ihm, und er drängte: ›Schneller, Frike, schneller, bevor mich die Kraft völlig verläßt. ‹ Also schlug ich die Seiten noch schneller um, jetzt ganz allein, da die Hand des Meisters herabgefallen war und er nur noch die Augen, aus denen das vertraute Feuer gewichen war, auf die Seiten gerichtet halten konnte. Und dann sagte er plötzlich: ›Halt, genau hier. Jetzt laß mich sehen…‹ Und das war alles.«

»Alles?« fragte Ylith. »Was meinst du mit alles?«

»Alles, was er gesagt hat, Herrin.«

»Das habe ich sehr gut verstanden. Aber was ist dann passiert?«

»Er ist verschwunden, Herrin.«

»Verschwunden?«

»Er hat sich direkt vor meinen Augen aufgelöst. Ich war völlig außer mir, weil ich nicht wußte, was ich tun sollte. Er hatte mir keine Anweisungen hinterlassen. Also bin ich eine Weile hysterisch geworden und habe dann beschlossen, einfach auf Eure Rückkehr zu warten.«

»Beschreib mir die Art seines Verschwindens«, verlangte Ylith.

»Die Art?« fragte Frike.

»War es ein Rauchabgang, bei dem er sich in Nichts auflöst hat? Oder ein Feuerabgang, bei dem er vielleicht mit einem leisen Donnerschlag verschwunden ist? Oder ist er zuerst zu einem kleinen Punkt zusammengeschrumpft?«

»Ich weiß es nicht Herrin. Ich habe mir die Augen zugehalten.«

»Du hast dir die Augen zugehalten? Du bist ein Idiot, Frike!«

»Ah, Herrin, aber ich habe zwischen den Fingern durchgelugt.«

»Und was hast du dabei gesehen?«

»Ich habe gesehen, wie der Gebieter sehr dünn geworden und dann seitlich davongeglitten ist.«

»Nach welcher Seite?«

»Nach rechts, Herrin.«

»Ist er gleichmäßig oder mit einer Art Aufundabbewegung weggeglitten?«

»Mit so einer Bewegung.«

»Das ist jetzt sehr wichtig, Frike. Hat er irgendwann die Farbe gewechselt, bevor er vollständig verschwunden ist?«

»Das ist es, Herrin! Kurz bevor er ins Nichts davongeglitten ist, hat er tatsächlich die Farbe gewechselt!«

»Welche Farbe hat er angenommen?«

»Blau, Gebieterin.«

»Das hatte ich befürchtet«, sagte Ylith. »Laß uns jetzt einen Blick in sein Beschwörungsbuch werfen.«

Frike hob das schwere Buch auf und legte es auf ein Lesepult, wo Ylith es leichter lesen konnte. Es war noch immer an der Seite aufgeschlagen, die Azzie direkt vor seinem Verschwinden betrachtet hatte. Ylith beugte sich über die Seite und übersetzte die Runen schnell.

»Was steht da?« wollte Frike wissen.

»Es ist ein Allgemeiner Lösungszauber, Frike. Das ist der Zauberspruch, den Dämonen benutzen, wenn irgend etwas oder irgend jemand versucht, sie zu beschwören. Er wird die Große Gegenverschleierung genannt.«

»War er nicht schnell genug?«

»Offensichtlich nicht.«

»Beschworen!« rief Frike. »Aber der Meister ist doch selbst ein Beschwörer!«

»Natürlich ist er das«, bestätigte Ylith, »und sogar ein sehr guter. Aber jeder, der beschwört, Frike, kann ebenfalls beschworen werden. Das ist eins der grundlegenden Gesetze des Unsichtbaren Reiches.«

»Ich habe davon gehört«, sagte Frike. »Aber wer könnte den Meister auf diese Art beschworen haben?«

»Da gibt es eine Menge Möglichkeiten«, erwiderte Ylith. »Aber der Reihenfolge der Ereignisse nach zu schließen, war es wahrscheinlich ein Sterblicher – vielleicht eine Hexe oder ein Alchemist – oder ein anderer Dämon, der eine Art Anspruch gegenüber Azzie hatte und ihn deshalb ohne sein Einverständnis herbeirufen konnte.«

»Aber wann werden wir ihn wiedersehen?« wollte Frike wissen.

»Ich habe keine Ahnung«, gestand Ylith. »Das hängt davon ab, wer die Beschwörung durchgeführt hat, welcher Zauberspruch verwendet wurde und was für eine Verpflichtung Azzie eingegangen ist.«

»Wird er bald zurückkommen?«

Ylith zuckte die Achseln. »Er könnte jeden Moment wiederkommen oder aber für Stunden, Tage, Monate, Jahre oder sogar für immer verschwunden bleiben. Es ist immer schwer, diese Dinge hinterher festzustellen.«