»Ich würde mit Freuden meinen Hintern opfern, wenn ich ihn damit zurückbringen könnte!« rief Frike. Er rang voller Kummer und Hilflosigkeit die Hände. Dann zuckte ein Gedanke durch seinen benebelten Verstand. »O nein!« schrie er.
»Was ist?« erkundigte sich Ylith.
»Die Körper!«
»Was ist mit ihnen?«
»Sie laufen Gefahr zu verwesen, Herrin! Heute morgen erst haben wir den letzten Rest Eis verbraucht, und wir haben kaum noch Jauche. Ich habe den Gebieter darauf hingewiesen, gleich nachdem er aufgestanden war, aber er hat nur gesagt: ›Mach dir deswegen keine Sorgen, Frike. Ich werde bei der Abteilung für Ausrüstung und Zubehör Nachschub bestellen, sobald ich mein Nickerchen gehalten habe.‹«
»Nickerchen? Aber du hast gesagt, daß er gerade erst aufgestanden war.«
»Er hält gern direkt nach dem Aufstehen ein Nickerchen, Herrin.«
»Jetzt, wo du es erwähnst, erinnere ich mich auch wieder daran«, murmelte Ylith.
Sie ging in den Teil des Labors, in dem die Körper in ihren sargförmigen offenen Behältern Seite an Seite ruhten und auf ihre Wiedererweckung warteten. Das Eis aus den Hochalpen war geschmolzen. Auf den Böden beider Behälter befanden sich nur noch kleine Jauchepfützen.
»Dein Gebieter ist sehr nachlässig gewesen«, stellte Ylith fest.
»Er hatte nicht damit gerechnet, beschworen zu werden«, verteidigte Frike sein Herrn und Meister.
»Das nehme ich auch nicht an. Gut, eins nach dem anderen und das Wichtigste zuerst. Wir müssen diese Körper wieder einfrieren, Frike.«
»Wie bitte?«
»Wir müssen eine Möglichkeit finden, ihre Temperatur zu senken.«
»Könnt Ihr Gletschereis herbeizaubern, Herrin?«
»Nein«, sagte Ylith. »Die Beschwörungskräfte von Hexen erstrecken sich nicht auf solche Dinge. Gegenstände herbeizuzaubern ist Sache der Dämonen. Aber unser Dämon ist entführt worden. Das ist eine verfahrene Situation.« Sie ging zum Sofa und setzte sich. »Hör auf zu jammern, Frike, und laß mich nachdenken.«
Nach einer Weile kehrte sie zu den Behältern zurück, beugte sich zu den Körpern hinab und berührte sie. Sie fühlten sich noch immer einigermaßen kalt an, aber Ylith wußte, daß sie schon wärmer waren, als sie es eigentlich sein durften. In ein oder zwei Stunden würden Azzies kostbare Exemplare nur noch verwestes Fleisch sein, das wahrscheinlich von Maden wimmelte. Und dann würde es auch keine Rolle mehr spielen, ob er wieder zurückkehrte. Der Wettbewerb würde für ihn vorbei sein, noch bevor er begonnen hatte.
»Ich werde etwas wegen dieser Körper unternehmen, Frike«, sagte sie. »Ich werde mit ein paar Leuten sprechen. Du solltest besser nicht zusehen, wie ich abreise. Das ist Frauenmagie und nicht für männliche Augen gedacht.«
»Ich bin im Wohnzimmer, wenn Ihr mich braucht«, erwiderte Frike und schlich sich davon.
Ylith machte sich an die Arbeit.
KAPITEL 8
Ylith wählte einen frisch aufgeladenen Besenstiel aus, vergewisserte sich, daß ihre Schutzamulette dort saßen, wo sie hingehörten, flog dann zum Fenster hinaus und immer höher empor in das reine Blau der obersten Atmosphärenschichten. Während des Fluges murmelte sie einen persönlichen Schutzzauber, denn ihr behagte überhaupt nicht, was sie zu tun im Begriff war. Aber um die Körper kalt zu halten, war ihr erster Gedanke gewesen, die Harpyien um Hilfe zu bitten.
Harpyien und Hexen gingen freundschaftlich miteinander um. Die Harpyien waren weibliche Dämonen, die sich nach dem Zusammenbruch der klassischen Mythologie den Mächten der Finsternis angeschlossen hatten. Nicht nur, daß sie Böses taten, allein ihre Gegenwart war schon beängstigend. Ihr Atem stank, und ihre Tischmanieren waren abstoßend. Trotzdem hatte Ylith beschlossen, sie aufzusuchen, denn wenn sie auch widerlich waren, verfügten sie doch über einen wachen Verstand. Es gab viele andere dämonische Gottheiten, an die sie sich hätte wenden können, aber nur den Harpyien und deren Schwestern, den Sirenen, war zuzutrauen, daß sie sofort verstehen würden, was Ylith wollte, und darüber hinaus besaßen sie genug Ehrgefühl, um ein einmal gegebenes Versprechen auch einzuhalten.
Nach einem schnellen Flug passierte Ylith schon bald den Riß, der das Reich der Menschen von dem der Nicht- oder Übermenschen trennt.
Im selben Moment fand sie sich in einer gewaltigen Wolkenlandschaft voller verschneiter Hügel und Berge wieder. Flüsse durchzogen das Land, an deren Ufern sich kleine Tempel erhoben, die alle aus Wolken bestanden. Während Ylith langsam herabsank, erblickte sie Furien und Chimären und in einem nur ihm vorbehaltenen Tal Behemoth, der schnaubte und mit einer riesigen Klaue nach ihr schlug. Sie entging dem Ungeheuer mit Leichtigkeit und flog weiter in eine Gegend voller blauer Wolken, unter denen alles bläulich und golden gefärbt war wie in den Schleiern eines verschwommenen Traums. Am Ufer eines verschlafenen Flusses entdeckte sie die winzigen Gestalten wunderschöner Frauen und in der Nähe einen Wasserfall, der zu Spiel und Spaß einlud.
Im Landeanflug näherte sich Ylith einer der Regionen, in denen Harpyien und Sirenen zusammenlebten. Sie wurde langsamer und setzte am linken Flußufer auf. Es war der Styx, der große Fluß, der aus der tiefsten Vergangenheit bis in die fernste Zukunft fließt. An seinen Ufern wuchs eine Vielzahl unbekannter Bäume, die auf der Erde noch nicht erschienen waren. Unter diesen Bäumen räkelte sich eine Gruppe junger Frauen entspannt im Gras. Es waren acht, Sirenen und mehrere Harpyien. Die Sirenen waren dafür berühmt, Menschen – vornehmlich Seefahrer – mit ihren süßen Gesängen in den Untergang zu locken. Die Harpyien waren die Weiterentwicklung der Sirenen, schöne Frauen mit goldenem Haar, festen, wohlgeformten Brüsten, aber auch mit Tischmanieren, die eine Hyäne vor Scham hätten erröten lassen. Ihre Aufgabe bestand darin, die Seelen der Verdammten auf die klassische Art zu foltern, indem sie ihnen das Essen aus dem Mund rissen und sie von Kopf bis Fuß mit feurigen Exkrementen besudelten.
Zwar gab sich Ylith selbstbewußt, aber sie verspürte mehr als nur ein bißchen Furcht, denn diese uralten Dämoninnen frönten merkwürdigen Perversionen, hegten seltsame Gedanken und waren stets nur sehr schwer berechenbar. Trotzdem trat Ylith kühn vor und sagte: »Schwestern, ich entbiete euch Grüße aus der Welt der Menschen.«
Eine der Sirenen regte sich. Sie war groß, aschblond und hatte einen süßen Rosenknospenmund. Kaum zu glauben, daß dies Poldarge war, eine der unheilvollsten chthonischen Wesenheiten.
»Was schert uns die Menschenwelt?« fragte sie. »Unsere Heimat sind die Ufer dieses herrlichen Flusses. Hier unterhalten wir einander durch Lieder und Erzählungen über großartige vergangene Heldentaten. Und von Zeit zu Zeit fällt uns ein Mann in die Hände, der aus Charons Fährboot geflohen ist. Die Flußgottheiten übergeben ihn uns, und wir spielen mit ihm, bis er den Verstand verliert. Dann essen wir ihn. Jede von uns reißt sich ihren Anteil aus ihm heraus.«
»Ich dachte mir, daß ihr vielleicht Lust auf ein bißchen Zerstreuung haben könntet, solange es einem nützlichen Zweck dient«, sagte Ylith. »Denn wie herrlich dieses Flußufer auch sein mag, so müßt ihr doch manchmal die Menschenwelt vermissen, wo großartige Taten vollbracht werden können.«
»Was kümmern uns menschliche Taten?« fragte Poldarge. »Aber sprich weiter, Schwester. Sag uns, weshalb du gekommen bist.«
Und so erzählte Ylith vom großen Jahrtausendwettkampf, von Azzies Plan, gegen die Mächte des Lichtes anzutreten, indem er zwei wiederbelebte Menschen benutzen wollte, um sie ein Märchen mit umgekehrten Vorzeichen und unheilvollem Ausgang spielen zu lassen. Die Sirenen und Harpyien klatschten Beifall. Allein der Gedanke, daß die nächsten tausend Jahre dem Bösen geweiht sein sollten, ließ sie wollüstig erschaudern.
»Es freut mich, daß euch die Sache gefällt«, sagte Ylith. »Aber es gibt da ein Problem. Azzie ist verschwunden. Irgend jemand hat ihn beschworen.«