In Azzies Anwesen zurückgekehrt, blieb Ylith gerade Zeit genug, ihr Haar zu waschen und es festzustecken. Dann war sie reisefertig.
Sie schwang sich auf einem frisch aufgeladenen Besenstiel in die Höhe und jagte allein dahin – eilig, aber aufmerksam. Die Erde schrumpfte unter ihr zusammen, und schon bald befand sie sich im funkelnden Reich des Himmels, wo sie sich auf die Suche nach den Harpyien machte, ohne allerdings die geringste Spur von ihnen entdecken zu können. Sie umkreiste den äußersten Rand der Welt und fand nichts. Doch dann näherte sich ihr ein Pelikan im langsamen Flug und fragte: »Sucht Ihr die Harpyien mit den beiden Leichen? Sie haben mir aufgetragen, Euch zu sagen, daß ihnen langweilig geworden ist und sie die Körper an einem sicheren Platz abgestellt haben. Sie selbst sind zu ihren Schwestern zurückgekehrt.«
»Haben sie sonst noch irgend etwas gesagt?« erkundigte sich Ylith und führte eine Reihe spiralförmiger Wenden aus, um ihre Geschwindigkeit der des langsam fliegenden Pelikans anzupassen.
»Nur irgend etwas von einem Mah-Jongg-Spiel«, erwiderte der Vogel.
»Haben sie gesagt, wo dieser sichere Ort ist?«
»Nicht ein Wort«, sagte der Pelikan. »Ich wollte sie noch danach fragen, aber da waren sie schon weg, und man kann sie unmöglich einholen. Ihr wißt ja, wie schnell sie mit diesen neumodischen Bronzeflügeln fliegen können.«
»Aus welcher Richtung sind sie gekommen?« wollte Ylith wissen.
»Aus Norden«, antwortete der Pelikan und deutete mit einer Flügelspitze in die entsprechende Richtung.
»Geografischer oder magnetischer Norden?«
»Geografischer Norden.«
»Ich glaube, dann weiß ich, wo sie hergekommen sind«, sagte Ylith.
Sie schwenkte nach Norden und beschleunigte, obwohl sie wußte, daß der Wind ihre Augen röten würde, was ihrem Aussehen nicht gerade zuträglich war. In kürzester Zeit hatte sie das Land der Franken hinter sich gelassen und passierte die von tiefen Fjorden zerklüftete Küste, wo die Nordmänner noch immer ihren alten Göttern huldigten und mit Hämmern, Äxten und anderen landwirtschaftlichen Werkzeugen kämpften. Ihr Flug führte sie weiter über das Land der Lappen, die ihre Rentierherden durch den Schnee trieben und Yliths Anwesenheit spürten, auch wenn sie so taten, als würden sie sie nicht bemerken, denn das beste, was man tun kann, wenn man mit unerklärlichen Phänomenen konfrontiert wird, ist, sie einfach zu ignorieren.
Schließlich erreichte Ylith den Nordpol, und zwar den richtigen, der an dem imaginären Punkt liegt, an dem sich der wahre und der absolute Norden treffen: der Nordpol, den kein Sterblicher jemals finden wird. Nachdem sie durch die Realitätsfalte geschlüpft war, hinter der er lag, erblickte sie unter sich das Dorf des Weihnachtsmanns.
Es war auf der kompakten Eiskappe errichtet worden, die den Nordpol bedeckte. Die Gebäude waren sehr ordentlich zum Teil aus Baumstämmen, zum Teil aus Brettern gezimmert. Auf einer Seite entdeckte Ylith die Werkstätten, wo die Gnome des Weihnachtsmanns alle möglichen Geschenke für die Sterblichen anfertigten. Diese Werkstätten sind allgemein bekannt. Weniger bekannt dagegen ist, daß es ein Hinterzimmer gibt, in dem die Essenz von Gut und Böse aus den geheimen Lagerstätten der Erde angeliefert wird. Jedem Geschenk wurde eine Prise Glück oder Unglück hinzugefügt. Nach welchen Kriterien Glück und Unglück verteilt wurden, konnte niemand erklären. Als Ylith nun zwischen den Fertigungsstätten hindurchschlenderte und die kleinen Gesellen mit ihren Hämmern und Schraubenziehern beobachtete, schien es ihr, als würde die Verteilung rein zufällig ablaufen. In der Mitte des großen Arbeitstisches stand ein Trichter, in den kleine glitzernde Bruchstück von Glück und Unglück hinabregneten, die wie kleine Kräutersträuße aussahen. Vor dem trichterförmigen Behälter saß ein Zwerg, der die Schicksalsbringer herausnahm, ohne sie auch nur eines flüchtigen Blickes zu würdigen, und sie in die Weihnachtsgeschenke stopfte.
Ylith fragte die Zwerge, ob erst kürzlich ein paar Harpyien mit zwei tiefgefrorenen Menschen vorbeigekommen wären. Die Zwerge schüttelten gereizt die Köpfe. Weihnachtsgeschenke herzustellen und zu verpacken ist Präzisionsarbeit, und wenn man dabei angesprochen wird, gerät man schnell aus dem Rhythmus. Ein Zwerg deutete mit einer ruckhaften Kopfbewegung in den hinteren Bereich der Werkstatt. Ylith ging in die angegebene Richtung und erblickte am Ende des langgestreckten Raumes eine Tür mit der Aufschrift: Büro des Nikolauses. Sie klopfte an und trat ein.
Der Nikolaus war ein großer dicker Mann mit einem Gesicht, das zum Lächeln geschaffen war. Aber das Aussehen verrät nicht immer die Wahrheit. Im Augenblick wirkte seine Miene mürrisch und verkniffen, während er in eine magische Seemuschel sprach.
»Hallo, ist dort die Abteilung für Ausrüstung und Zubehör? Ich muß mit einem der Verantwortlichen sprechen.«
Die Antwort kam aus einem ausgestopften Paviankopf an der Wand.
»Sie haben richtig gewählt. Wer spricht dort?«
»Hier ist der Nikolaus.«
»Ja, Herr Nikolaus. Sind Sie autorisiert, sich mit der Abteilung für Ausrüstung und Zubehör in Verbindung zu setzen?«
»Ich nehme an, Sie haben noch nicht von mir gehört«, erwiderte der Nikolaus. »Ich bin derjenige, der an jedem vierundzwanzigsten Dezember nach dem neuen Kalender die Geschenke bringt.«
»Oh, der Nikolaus! Wann werden Sie denn endlich auch den Dämonen Geschenke bringen?«
»Ich habe schon mehr als genug damit zu tun, den Menschen Geschenke zu bringen«, antwortete der Nikolaus. »Ich habe ein Problem…«
»Warten Sie einen Moment«, sagte die Stimme. »Ich verbinde Sie mit der Beschwerdeabteilung.«
Der Nikolaus seufzte. Wieder wurde er hingehalten. Dann entdeckte er Ylith, die gerade das Büro betreten hatte.
Er blinzelte dreimal schnell hinter den rechteckigen Gläsern seiner Brille. »Du liebe Güte! Sie sind kein Zwerg, nicht wahr?«
»Nein«, sagte Ylith, »und ich bin auch kein Rentier. Aber ich gebe Ihnen einen Hinweis. Ich bin auf einem Besenstiel hergekommen.«
»Dann müssen Sie eine Hexe sein!«
»Sie haben es erfaßt.«
»Werden Sie mich verhexen?« fragte der Weihnachtsmann und sabberte ein wenig, als er Yliths Reize bemerkte, die durch ihre windzerzauste Kleidung besonders deutlich zur Geltung kamen. »Wissen Sie, ich hätte nichts dagegen, verhext zu werden. Niemand denkt jemals daran, den Nikolaus zu verhexen. Als ob ich nicht auch von Zeit zu Zeit etwas Aufmunterung gebrauchen könnte. Wer bringt denn dem Weihnachtsmann Geschenke, häh? Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht? Immer heißt es: Geben, geben, geben. Aber was bekomme ich dafür?«
»Befriedigung. Sie können sich daran erfreuen, daß alle Sie lieben.«
»Was sie lieben, sind meine Geschenke, nicht mich.«
»Der Geber ist immer ein Teil dessen, was gegeben wird«, sagte Ylith.
Der Nikolaus schwieg einen Moment lang und dachte darüber nach. »Glauben Sie das wirklich?«
»Wie sollte es denn anders sein?«
»Schön, das klingt schon besser. Dürfte ich erfahren, was Sie hier tun? Normalerweise gibt es hier nur Zwerge und Rentiere. Und natürlich mich.«
»Ich bin gekommen, um zwei Pakete abzuholen, die hier für mich abgegeben worden sind«, erklärte Ylith.
»Pakete? Was für Pakete?«
»Eins mit männlichem, das andere mit weiblichem Inhalt. Beide menschlich und tiefgefroren. Sie sind von Harpyien geliefert worden.«
»Oh, diese gräßlichen Harpyien!« rief der Nikolaus. »Sie haben den Schnee im Umkreis von mehreren Meilen gelb besudelt!«