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»Er hat keine Familie!« protestierte Azzie. »Ich habe ihn ganz allein erschaffen.«

»Ja, das weiß ich«, entgegnete Hermes. »Aber erinnere dich, was wir über seine Beine in Erfahrung gebracht haben. In allen Körperteilen schlummern Erinnerungen, besonders in Herzen.«

»Er hat das Herz eines Feiglings«, räumte Azzie ein. »Den Rest der Familie habe ich mir nie genauer angesehen.«

»Ich werde das für dich erledigen«, sagte Hermes. Er verschwand, nicht etwa in einer Rauchwolke, wie es gewöhnliche Dämonen taten, sondern in einem hellen Auflodern von Flammen. Azzie bewunderte seinen Abgang. Da war etwas, das er wirklich gern lernen würde.

Kurz darauf kehrte Hermes auch schon wieder zurück. »Es ist, wie ich vermutet habe. Dein Kadaver mit dem Herzen eines Feiglings war der mittlere von drei Söhnen.«

»Und? Was hat das zu bedeuten?«

»Gemäß den Alten Lehren ist der mittlere Sohn gewöhnlich der wertloseste. Der älteste Sohn erbt das Königreich. Wenn alles seinen geregelten Gang geht, zieht der jüngste Sohn in ein gefahrvolles Abenteuer und erringt dabei ein anderes Königreich. Der mittlere Sohn ist einfach nur faul und unternimmt kaum etwas. So sorgt die Natur dafür, das alles im Gleichgewicht bleibt.«

»Beim Höllenfeuer!« rief Azzie aus. »Ich habe es mit einem mittleren Sohn zu tun, der auch noch ein Feigling ist! Was soll ich machen?«

»Da er noch unfertig ist, besteht Hoffnung, seine Einstellung zu verändern. Vielleicht könntest du ihn davon überzeugen, daß er ein jüngerer Sohn ist. Dann wäre er für seine Aufgabe besser geeignet.«

»Wird ihn das davon abhalten, ein Feigling zu sein?«

»Ich fürchte, nein«, bekannte Hermes. »Natürlich wäre es hilfreich, wenn du ihm Geschichten über die Kühnheit seiner Vorfahren erzählst. Aber seine Feigheit ist ein ihm innewohnender Charakterzug, den man nicht durch Ermahnungen beseitigen kann.«

»Was schlägst du also vor?« fragte Azzie.

»Das einzige bekannte Heilmittel gegen Feigheit«, sagte Hermes, »ist ein Kraut, das Mutia sempervirens genannt wird.«

»Wo wächst es?« wollte Azzie wissen. »Und wirkt es wirklich?«

»Seine Wirkung steht außer Frage. Mutia, oder Nervenkraut, wie man es auch nennt, erfüllt einen Mann mit Draufgängertum und Zielstrebigkeit. Aber man muß es in kleinen Dosen verabreichen, sonst verwandelt es Tapferkeit in Tollkühnheit, und der Held wird getötet, noch bevor er richtig losgelegt hat.«

»Es fällt mir schwer, mir den Prinzen als tollkühn vorzustellen.«

»Verabreiche ihm eine Dosis von der Größe eines kleinen Fingernagels, und du wirst ein überraschendes Ergebnis erzielen. Aber denk auch daran, es ist immer ratsam, es mit einem Gegenmittel wie zum Beispiel Ruhium zu kombinieren, dem Kraut für vorausschauende Aufmerksamkeit.«

»Ich werde daran denken«, versicherte Azzie. »Wo kann ich dieses Mutia finden?«

»Das ist das eigentliche Problem«, gestand Hermes. »Im Goldenen Zeitalter gab es eine ganze Menge davon, und niemand machte sich die Mühe, es zu essen, denn damals war kein Mut erforderlich, sondern nur die Fähigkeit, sich zu vergnügen. Dann kam das Bronzene Zeitalter, in dem die Menschen einander bekämpften, gefolgt vom Eisernen Zeitalter, in dem sie nicht nur gegeneinander, sondern auch gegen alles andere kämpften. Damals nahmen sie das Kraut in großen Mengen zu sich, was einer der Gründe dafür ist, warum die Menschen dieser Zeit so draufgängerisch waren. Allerdings hätten diese viel zu wild geführten Kriege die Menschheit beinahe ausgelöscht. Mit dem Klimawechsel, den das neue Zeitalter mit sich brachte, starb die Mutiapflanze aus. Und heute findet man sie nur noch an einem Ort.«

»Sag mir, wo der ist«, bat Azzie.

»In einem verstaubten Regal der Abteilung für Ausrüstung und Zubehör«, sagte Hermes. »Die letzten Pflanzen wurden getrocknet und dann zur ewigen Aufbewahrung in eine Jauchetinktur eingelegt.«

»Aber ich habe mich bereits nach so etwas bei der Abteilung erkundigt! Dort hat man mir gesagt, daß man noch nie von so etwas gehört hätte!«

»Das sieht ihnen ähnlich«, erwiderte Hermes. »Du mußt sie irgendwie dazu bringen, eine gründliche Suche in die Wege zu leiten. Es tut mir leid, Azzie, aber das ist das einzige, das dir weiterhelfen kann.«

Das war ein Problem, denn die Abteilung für Ausrüstung und Zubehör verhielt sich zunehmend unkooperativ. Azzie hegte sogar den Verdacht, daß die Leute dort sein Projekt schon längst abgeschrieben hatten, vor sich hin dösten und darauf warteten, daß jemand mit einer neuen Idee kam. Er wußte, daß er in Schwierigkeiten steckte. Azzie redete mit dem Prinzen, berichtete ihm von den heroischen Taten erfundener Ahnen und drängte ihn, es ihnen in jeder Beziehung gleichzutun. Aber der Prinz zeigte keinerlei Interesse. Selbst als er ihm kleine Porträts von Rosenrot brachte, angefertigt von Dämonenkünstlern, die garantiert jeden körperlichen Reiz der Prinzessin festgehalten hatten, zeigte sich der junge Mann völlig gleichgültig und sprach statt dessen davon, eine Modeboutique zu eröffnen, sobald er etwas älter geworden wäre.

KAPITEL 6

Es war früh am Abend. Die Augustsonne hatte den ganzen Tag lang auf das Anwesen in Augsburg herabgebrannt. Azzie saß in seinem grobgezimmerten bequemen Sessel und las in einem der Rundschreiben, die hin und wieder vom Amt für Interne Angelegenheiten verschickt wurden. Es enthielt das übliche Zeug: einen allgemeinen Aufruf an sämtliche Mitarbeiter, im öffentlichen Interesse Böses zu tun, und eine Auflistung der laufenden höllischen Aktivitäten. Unter anderem war ein Kalender mit den Geburtstagen der Wechselbälger abgedruckt, die in die Wiegen der Menschen gelegt worden waren, während man die echten Kinder entfernt und verändert hatte, um sie den Azteken in der Neuen Welt zu schicken und ihre Bevölkerung zu vergrößern, deren Blutopfer allgemeine Bewunderung erregt hatten. Es gab Berichte über Feierlichkeiten angesichts von Feuersbrünsten und Verkaufsveranstaltungen in Höllengruben, eben das übliche Zeug, hier und da mit Kurznachrichten aufgelockert. Azzie las das Rundschreiben, obwohl es ihn nicht sonderlich interessierte. Manchmal entdeckte man etwas Nützliches in den lieblos verfaßten Artikeln, meistens jedoch nicht.

Doch dann, als ihm die Augen zuzufallen drohten und er vor dem Kamin zu dösen begann, ertönte ein gewaltiges Klopfen an der hohen Haupteingangstür des Anwesens. Es dröhnte so laut, daß Azzie beinahe aus seinem Sessel aufsprang. Der Märchenprinz, der gerade das Schnittmuster eines griechischen Gewandes von einer Tontafel auf ein Stück Pergament übertrug, verschwand wie der Blitz, noch bevor das Echo des letzten Klopfens verklungen war. Nur der alte Frike war reglos sitzen geblieben, was allerdings nicht an seinem Mut lag; der plötzliche Lärm hatte ihn vor Angst erstarren lassen, so wie angeblich ein Kaninchen beim Anblick eines Falken erstarrt, der mit drohend gespreizten Schwingen und ausgestreckten Krallen auf es herabstößt.

»Ziemlich spät für einen Besucher«, murmelte Azzie nachdenklich.

»Aye, Sire, und außerdem ziemlich laut«, sagte Frike, der sich weit genug aus seiner Erstarrung gelöst hatte, um am ganzen Leib zittern zu können.

»Reiß dich zusammen, Mann!« befahl Azzie. »Wahrscheinlich ist es nur ein Reisender, der sich verirrt hat. Setz einen großen Kessel Wasser auf, während ich nachsehe, wer es ist.«

Er ging zur Tür und schob die schweren Riegel zurück, die aus vulkanischem Stahl geschmiedet worden waren.

Vor ihm stand eine hochgewachsene weißgekleidete Gestalt. Der Mann trug einen schlichten Goldhelm mit Taubenflügeln auf beiden Seiten, eine schneeweiße Rüstung und einen weißen Umhang aus Hermelinpelz um die Schultern. Er war auf eine seltsam langweilige Art attraktiv, hatte ein kräftiges ebenmäßiges Gesicht und große blaue Augen.

»Hallo«, sagte er. »Ich hoffe, ich bin an der richtigen Adresse. Das ist doch die Residenz des Dämons Azzie Elbub, nicht wahr?«