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Er wich instinktiv zurück. Ein Kind. Ein kleines pausbäckiges, flachsblondes Mädchen von vielleicht sechs Jahren. Aus irgendeinem Grund mußte sie ihn sehen können. Und nicht nur das: Sie hatte ihn gefangen.

Azzie sagte sich, daß es das beste war, das Kind von Anfang an einzuschüchtern, und blähte sich zu seiner vollen Größe auf. Er versuchte, sich drohend vor ihm aufzubauen, aber der merkwürdig leuchtende Strick, dessen anderes Ende das Mädchen an einem Balken festgebunden hatte, straffte sich und ließ ihn erneut umkippen. Das kleine Mädchen lachte, und Azzie erschauderte. Nichts kann einen Dämon wütender machen, als junges unschuldiges Gelächter.

»Hallo, kleines Mädchen«, sagte er. »Kannst du mich sehen?«

»Ja«, erwiderte sie. »Du siehst wie ein garstiger alter Fuchs aus!«

Azzie warf einen Blick auf die winzige Anzeige in seinem Unsichtbarkeitsamulett. Wie er befürchtet hatte, war die Energie fast erschöpft. Diese Idioten in der Abteilung für Ausrüstung und Zubehör! Aber natürlich hätte er das Amulett gleich nach Erhalt selbst überprüfen sollen.

Wie es schien, steckte er in der Klemme. Aber nicht so tief, daß er sich nicht würde herausreden können.

»Aber wie ein netter Fuchs, nicht wahr, Schnäuzelchen?« gab er zurück und benutzte dabei ein unter Dämoneneltern geläufiges Kosewort. »Wie schön, dich zu sehen! Mach doch bitte diesen Strick los, und ich gebe dir einen ganzen Sack voller Süßigkeiten.«

»Ich mag dich nicht«, sagte das Kind. »Du bist böse. Ich werde dich gefesselt lassen und den Priester holen.«

Sie starrte ihn anklagend an. Azzie begriff, daß es einiges an List und Klugheit erfordern würde, um sich aus dieser Lage herauszuwinden.

»Sag mir, kleines Mädchen, woher hast du diesen Strick?« fragte er.

»Den hab’ ich in den Lagerräumen der Kirche gefunden«, erwiderte sie. »Er hat zwischen ein paar Knochen auf einem Tisch gelegen.«

Die Relikte von Heiligen! Das bedeutete, daß dieser Strick ein Geistfänger war! Die besten Geistfänger wurden aus den Stricken gemacht, mit denen die Heiligen ihre Gewänder gürteten. Es würde nicht leicht sein, diesen Strick wieder loszuwerden.

»Kleines Mädchen, ich bin hier, um auf deinen Vater aufzupassen. Es geht ihm nicht so gut, wegen dem Sterben und Wiederauferstehen und all diesen Dingen. Und jetzt sei lieb und nimm den Strick weg, wie es sich für ein nettes braves Mädchen gehört.«

»Nein«, sagte das kleine Mädchen auf jene unerbittliche Art, die kleinen – und einigen großen – Mädchen zu eigen ist.

»Also, bei der ewigen Verdammnis!« stieß Azzie hervor. Er mühte sich nach Kräften, konnte seinen Fuß aber nicht aus dem Geistfänger befreien, der sich zu seinem Ärger jedes Mal noch fester zuzog, wenn er versuchte, ihn abzustreifen. »Komm schon, kleines Mädchen, Spaß ist Spaß, aber jetzt solltest du mich gehen lassen.«

»Nenn mich nicht kleines Mädchen«, sagte das kleine Mädchen. »Ich heiße Brigitte, und ich weiß alles über dich und deinesgleichen. Der Priester hat uns alles erzählt. Du bist ein böser Geist, stimmt’s?«

»Aber ganz und gar nicht«, widersprach Azzie. »Ich bin sogar ein guter Geist. Oder zumindest ein neutraler Geist. Ich bin geschickt worden, um aufzupassen, daß es deinem Vater gutgeht. Ich muß mich jetzt um ihn kümmern und dann weiterziehen, um anderen Menschen zu helfen.«

»Oh, ich verstehe«, sagte Brigitte. Sie dachte eine Weile nach. »Du siehst aber ganz furchtbar wie ein Dämon aus.«

»Das Aussehen kann täuschen«, erklärte Azzie. »Laß mich gehen! Ich muß nach deinem Vater sehen.«

»Was gibst du mir dafür?« fragte Brigitte.

»Spielzeug«, sagte Azzie. »Mehr Spielzeug, als du jemals gesehen hast.«

»Gut«, erwiderte das kleine Mädchen. »Ich brauche aber auch noch neue Kleider.«

»Du bekommst eine völlig neue Garderobe. Aber laß mich jetzt frei!«

Brigitte kam näher und berührte den Knoten mit einem schmutzigen Zeigefinger. Dann hielt sie plötzlich inne. »Wenn ich dich freilasse, kommst du dann zu mir zurück, wenn ich dich rufe, und spielst mit mir?«

»Nein, das geht zu weit. Ich habe besseres zu tun. Ich kann nicht ständig für ein kleines rotznäsiges Dorfmädchen auf Abruf bereitstehen.«

»Na schön. Dann versprich mir, daß du mir drei Wünsche erfüllst, wann immer ich darum bitte.«

Azzie zögerte. Wünsche zu gewähren, kann einen in arge Schwierigkeiten bringen. Ein Dämon muß ein solches Versprechen einhalten. Und die Menschen und ihre Wünsche waren oft so extravagant!

»Ich gewähre dir einen Wunsch«, sagte er. »Solange er vernünftig ist.«

»Gut, einverstanden«, gab Brigitte nach. »Aber nicht zu vernünftig, ja?«

»Einverstanden! Und jetzt binde mich los!«

Brigitte löste den Knoten. Azzie rieb sich das Fußgelenk und kramte in seiner Tasche herum. Er fand eine Ersatzbatterie für sein Unsichtbarkeitsamulett, wechselte sie gegen die leere aus und verschwand.

»Und nicht vergessen, du hast es versprochen!« rief das kleine Mädchen.

Azzie wußte, daß er sein Versprechen nicht vergessen konnte, selbst wenn er es gewollt hätte. Versprechen, die übernatürliche Wesen gegenüber einem Menschen machen, werden im Amt für Ausgleichende Gerechtigkeit, das von Ananke geleitet wird, genau registriert. Vergißt ein Dämon ein gegebenes Versprechen, wird er von den Kräften der Notwendigkeit sehr schnell und schmerzhaft wieder daran erinnert.

Scrivener war in guter Verfassung. Er aß eine Schüssel Haferbrei und erteilte seinen Gehilfen und seiner Frau Anweisungen. Azzie verzog sich. Es wurde Zeit, daß er wieder sein gewohntes Leben aufnahm.

KAPITEL 4

Azzie genoß es, frei zu sein und wieder die grüne Erde durchstreifen zu können. Er hatte seine Zeit in der Grube wahrhaftig gehaßt, und das nicht nur wegen der geistlosen Eintönigkeit – die trostlosen täglichen Runden durch schmorende Sünder können sehr ermüdend sein. Azzie war ein energiegeladener Dämon, ehrgeizig und unternehmungslustig. Er war ein Agent des Bösen, und trotz einer gewissen Frivolität nahm er seine höllischen Pflichten sehr ernst.

Nachdem er Scriveners Dorf verlassen hatte, wollte er sich erst einmal orientieren. Diese Gegend war ihm unbekannt. Er hatte die Erde zum letzten Mal zur Zeit des Römischen Imperiums besucht und sogar an einer von Caligulas denkwürdigen Orgien teilgenommen. Während er jetzt im Tiefflug über das Land dahinsauste, das einst Gallien genannt worden war, schützte ihn sein Unsichtbarkeitsamulett vor unangenehmen Zwischenfällen. Darüber hinaus verlieh es seinem Träger eine gewisse zusätzliche Abschirmung, die sich wieder einmal auszahlte, als er die Flugbahn eines großen Schwarms Trompeterschwäne kreuzte. Wie er feststellte, erstreckte sich der Wald in alle Himmelsrichtungen, so weit sein Auge reichte. Scriveners Dorf war nicht mehr als ein kleiner gerodeter Fleck inmitten des Urwalds gewesen, der fast ganz Europa bedeckte und von Skythien im Osten bis nach Spanien im Westen reichte. Azzie entdeckte einen schlammigen Weg und folgte ihm in einer Höhe von knapp zweihundert Metern. Der Weg zog sich endlos dahin und mündete irgendwann auf eine ordentlich gepflasterte römische Straße. Dort stieß Azzie auf einen Reitertrupp, den er bis in eine größere Stadt begleitete. Später erfuhr er, daß es sich um Troyes handelte, das zum Königreich der Franken gehörte, großen Barbaren mit eisernen Schwertern, die nach dem Niedergang Roms ganz Gallien und etliche Länder mehr erobert hatten.

Azzie flog tief und langsam über die Stadt. Außer den vielen kleinen Häusern der einfachen Bürger entdeckte er auch die Paläste der Adligen und geistlichen Würdenträger. Am Rande der Stadt fand ein Jahrmarkt statt. Von dem fröhlichen Trubel angezogen, schwebte Azzie über die Zelte mit ihren Fahnen und Wimpeln und beschloß, dem Jahrmarkt einen Besuch abzustatten.