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Der Märchenprinz riß sich los und rannte davon. Die Ritter sprangen auf, jagten hinter ihm her und weckten auch den Rest ihrer Gefährten mit ihrem lauten Gebrüll.

Ihre Schreie verfolgten den Märchenprinzen und wurden von anderen Schreien beantwortet, die vor ihm aufklangen. Zuerst hielt der Prinz sie für ein Echo, doch die Tatsache, daß sie immer lauter wurden, ließ ihn bald die Wahrheit erkennen. Die Dämonenritter befanden sich nicht nur hinter, sondern auch vor ihm. Sie mußten schnell vorausgeeilt sein, um ihm den Weg abzuschneiden. Ihm würde nichts anderes übrigbleiben, als durch ihre Reihen zu schlüpfen.

Als er kurz stehenblieb, um den Mantel fester um sich zu ziehen, sah er fasziniert, wie seine Hand unsichtbar wurde, als der Stoff sie bedeckte. Er konnte durch sie hindurch auf den Boden sehen.

Natürlich blieb der Teil der Hand, der nicht vom Stoff bedeckt wurde, auch weiterhin sichtbar. Die Tatsache, daß der Arm, an dessen Ende sie sich befand, unsichtbar war, machte sie sogar noch auffälliger.

Hastig wickelte sich der Märchenprinz so gut wie möglich in den Mantel, rannte weiter und stieß auf ein grasbewachsenes Feld. Reiter tauchten im Mondlicht am Rand der Wiese auf. Dann streckte einer von ihnen den Arm aus, fuchtelte damit herum und rief: »Er muß dort sein, wo das Gras niedergetrampelt ist!« Sofort preschte ein Trupp los.

Der Märchenprinz wich in den Wald zurück und fand eine kleine Höhle, in der er sich so lange versteckte, bis er das Futter des Mantels herausgerissen hatte. Wie er gehofft hatte, besaß es die gleichen Eigenschaften wie der Mantelstoff selbst, obwohl es sehr dünn war. Deshalb konnte er daraus eine Maske anfertigen, die seinen Kopf vollständig bedeckte und ebenfalls unsichtbar machte.

Allerdings konnte er nicht verhindern, daß er Spuren hinterließ, Fußabdrücke auf dem Boden, wo Laub, Gras und kleine Zweige zerquetscht worden waren. Aber dadurch, daß jetzt auch sein Kopf unsichtbar war, würde er noch schwerer zu entdecken sein.

Er rannte weiter, obwohl ihm klar war, daß er in seiner Hast eine deutliche Fährte legte und es klüger gewesen wäre, sich langsamer und vorsichtiger zu bewegen, solange er sich mitten unter seinen Verfolgern befand. So würde sich ein echter Märchenprinz verhalten, dachte er, aber das war ihm unmöglich. Seine langen Beine hoben und streckten sich wie im Rausch und flohen vor der Gefahr, aber die Pferde seiner Verfolger waren noch schneller. Sie näherten sich von allen Seiten, und die Reiter hatten keine allzu große Mühe, seinen Weg aufgrund des Zurückweichens und des Abknickens der Zweige auszumachen.

Sie schossen auf ihn zu, die Stahlspitzen ihrer Lanzen auf ihn gerichtet. Voraus konnte er jetzt eine Lichtung erkennen, aber er bezweifelte, sie noch rechtzeitig zu erreichen, was um so quälender war, als er dort einen langen Streifen aus Kalkgestein entdeckte, auf dem er keine Fußabdrücke hinterlassen würde. Es würde äußerst knapp werden.

Einer der Ritter zielte mit der Lanze direkt auf ihn und preschte los.

Die Rettung erfolgte genau in diesem Moment höchster Gefahr. Der Märchenprinz wußte nicht, ob sie natürlichen Ursprungs war oder ob Azzie irgendwie die Hände im Spiel hatte. Bisher hatte Windstille geherrscht, jetzt aber kam unvermittelt ein böiger Wind auf, ein ausgewachsener Sturm, der von eisigem Regen und Hagelschauern begleitet wurde.

Überall geriet das Laub in wilde Bewegung und verwischte die Spuren seiner Flucht.

Der Ritter, der ihm am nächsten war, verfehlte ihn um fast zwei Meter, der nächste kam nicht einmal in seine Nähe. Die Dämonen verteilten sich und versuchten, ihn einzukreisen, aber der Märchenprinz schlüpfte mit Leichtigkeit zwischen ihnen hindurch und gelangte auf den felsigen Untergrund, auf dem er keine Spuren mehr hinterließ. Als er endlich wieder anhielt, war der Wind eingeschlafen, und er hörte nichts mehr von seinen Verfolgern. Da wußte er, daß er ihnen entkommen war.

KAPITEL 7

Der Märchenprinz rannte weiter, bis seine Beine gefühllos wurden und seine Lungen brannten. Irgendwann brach er zusammen und schlief ein.

Als er erwachte, stellte er fest, daß er auf einer sonnenüberfluteten Wiese lag. Am anderen Ende ragte ein Berg in den Himmel, ein gewaltiges Matterhorn aus dem Reich der Phantasie, ein Berg aus buntem Glas wie aus einem Traum. Vor dem Berg erstreckte sich ein dichter Wald, der aus Metallbäumen zu bestehen schien und ihm den Weg versperrte. Der Märchenprinz ging weiter. Die Bäume waren aus Metallrohren mit dornenartigen Auswüchsen zusammengesetzt, und selbst die größten maßen nicht viel mehr als zwei Meter. Als er sich ihnen näherte, sonderten sie ein gelbliches Gas ab, das schnell Feuer fing, von unter der Erde gelegenen Mechanismen entzündet.

Normalerweise hätte der Märchenprinz nicht wissen können, worum es sich dabei handelte, aber er erinnerte sich daran, wie er einmal voller Neugier einen Blick auf ein Blatt Papier geworfen hatte, das Azzie zuvor gelesen und dann auf seinem Schreibtisch hatte liegen lassen. Es war eine Quittung der Überregionalen Spirituellen Gaswerke für die Lieferung von Gas zur Befeuerung von Flammenbäumen gewesen.

Wenn Onkel Azzie tatsächlich die Rechnung für den Treibstoff der Bäume bezahlte – und eine andere Schlußfolgerung konnte der Märchenprinz aus seiner Entdeckung nicht ziehen –, waren die Anzeichen für eine Manipulation unverkennbar. Der Prinz verspürte ein seltsames Gefühl in sich aufsteigen, als er die Konsequenzen dieses Gedankens weiterverfolgte, der in ihm den Eindruck erweckte, nicht mehr als eine Marionette zu sein, die man in eine künstliche Szenerie verpflanzt hatte. Es war eine beängstigende Vorstellung, aber sie stellte sich gerade zu einem Zeitpunkt ein, an dem sich die dringende Notwendigkeit erhob, den Wald zu durchqueren. Also verdrängte er den Gedanken vorerst. Er würde sich später damit befassen.

Wenn man etwas anstellen konnte, konnte man es auch wieder abstellen. Der Märchenprinz suchte fast eine Stunde lang, bevor er das Ventil in einem Graben entdeckte. Als er es schloß, erloschen die Bäume. Wie überaus merkwürdig, dachte er, überhaupt so eine Konstruktion zu installieren.

Er durchquerte den Wald.

Und so gelangte er nach Glasbergdorf, dem letzten Basislager der Etappe. Hier konnten sich diejenigen, die den im Sonnenlicht glitzernden Gipfel des großen Berges erklimmen wollten, auf dem angeblich das verwunschene Schloß der schlafenden Prinzessin Rosenrot thronte, mit Proviant, Reisezubehör und Souvenirs eindecken.

Die Haupteinnahmequelle des Dorfes bestand im Dienstleistungsgewerbe für die Bergsteiger. Hier trafen sich Forscher und Glasbergkletterer aus aller Welt. Die Anziehungskraft des Berges war einfach unwiderstehlich.

Der Märchenprinz schlenderte an den Läden vorbei, die die Hauptstraße von Glasbergdorf säumten. Viele Geschäfte hatten sich auf Zubehör für die Glasbergkletterei spezialisiert. Glas stellt eine anspruchsvolle Herausforderung für Bergsteiger dar. Hörte man den Einheimischen zu, konnte man glauben, daß sich die Eigenschaften des Glases jedesmal änderten, wenn eine Wolke vor der Sonne vorbeizog. Auf diesem Berg war angeblich jede Glassorte vertreten: schlüpfriges Glas, trügerisches Glas, Wanderglas und nasses Glas, tödliches Hochgebirgsglas wie Tieflandgletscherglas. Jede Glassorte (und der Glasberg genoß den Ruf, aus all den erwähnten Glassorten und noch etlichen mehr zu bestehen) beinhaltete ihren eigenen Schwierigkeitsgrad, und in den Geschäften waren Broschüren erhältlich, die Informationen zu jeder denkbaren Variante und Ratschläge für die entsprechende Ausrüstung enthielten.

Zwar glaubte die Mehrheit, daß dieser Glasberg der einzige seiner Art auf der Welt wäre, doch es gab auch Intellektuelle, die behaupteten, der andauernde menschliche Drang, Glasberge zu ersteigen, könne nur durch ein unterschwelliges historisches Generationsgedächtnis erklärt werden, das praktisch der gesamten Menschheit zueigen wäre und sie daran erinnerte, früher unzählige Male und an den unterschiedlichsten Orten Glasberge bestiegen zu haben. Diesen Theoretikern zufolge war der Glasberg ein Archetypus der menschlichen Erfahrungen, die sich vom Anbeginn der Zeiten bis zum letzten Augenblick der fernen Zukunft fortwährend auf unendlich vielen Ebenen entwickelten.