Die Buchläden von Glasbergdorf enthielten auch Sachbücher zu dem Thema, mit Hilfe welcher Techniken Glasberge in dem einen oder anderen Jahr bestiegen worden waren. Es gab historische Abhandlungen, Ratgeber und Bücher über Interviews mit Bergsteigern und Theoretikern. In einigen Geschäften wurden ausschließlich Steigeisen in jeder erdenklichen Ausführung verkauft, einschließlich solcher, die mit Diamantsplittern besetzt waren.
Über die Frage, ob man Pferde zum Besteigen des Glasberges benutzen sollte, gab es Kontroversen im Dorf. Ganz allgemein fällt es Pferden schwerer als Menschen, einen Glasberg zu erklimmen. Die Beine der Pferde sind nicht in der Lage, die erforderlichen Bewegungen auszuführen. Es sind edle Tiere, hervorragend geeignet für den Ritt über Prärien und Flachland. Sie können sich geschickt in Wäldern und sogar in nicht allzu dichten Dschungeln bewegen, doch das Erklimmen von Glasbergen bereitet ihnen erhebliche Schwierigkeiten. Deshalb hatte es sich eingebürgert, Ziegen zu benutzen, um auf den Berg zu reiten.
Für Traditionalisten war das inakzeptabel. Von Märchenprinzen wird allgemein erwartet, den Glasberg auf dem Rücken ihrer Pferde zu bezwingen. Generationen von Illustratoren, von denen einige behaupteten, durch höhere spirituelle Machte inspiriert worden zu sein, hatten Pferde dargestellt, die Glasberge mit Märchenprinzen auf ihren Rücken erklommen. Gelehrte gesellschaftliche Schichten wurden nie müde, darauf hinzuweisen, daß ein Pferd – selbst wenn es den Berg hätte bezwingen können – dabei Schaden an Geist und Seele davontragen und völlig ausgepumpt sein würde. Aber trotzdem konnte sich niemand so recht mit der Idee anfreunden, Ziegen dafür zu verwenden.
Dem Märchenprinzen erging es in dieser Beziehung nicht anders. »Soll das ein Witz sein?« fragte er empört, als man ihm vorschlug, eine Ziege zu reiten. »Nie und nimmer!«
»In diesem Fall«, erklärte man ihm, »müßt Ihr Steigeisen tragen und versuchen, den Gipfel aus eigener Kraft zu erreichen.«
»Ich soll Steigeisen tragen?« Der Prinz teilte das allgemeine abergläubische Mißtrauen gegenüber diesen nützlichen Hilfsmitteln.
»Alle Bergsteiger benutzen sie.«
»Nein danke. Ihr werdet mich nicht dazu bringen, mir diese Dinger anzuschnallen.«
»Aber ohne sie werdet Ihr es nie bis zum Gipfel schaffen. Der Berg besteht vollständig aus Glas und ist sehr rutschig.«
Wie so viele junge Männer seiner Zeit hatte auch der Märchenprinz Vorurteile sowohl gegen Ziegen als auch gegen Steigeisen. Seufzend entschied er sich schließlich für das, wie ihm schien, kleinere Übel.
»Also gut«, sagte er. »Sattelt mir eine Ziege.«
Nicht jede Ziege schafft es, den Glasberg zu bezwingen. Das sollten sich diejenigen vor Augen führen, die der irrigen Annahme sind, man brauchte nicht mehr als eine Ziege, um eine Prinzessin zu erringen. Eine Ziege ist lediglich ein Hilfsmittel, um überhaupt an dem Rennen teilnehmen zu können. Hat man sein Ziel schließlich erreicht, kann man seine Ziege wieder gegen ein Pferd eintauschen, um sich darauf porträtieren zu lassen, denn natürlich macht ein Pferd mehr als eine Ziege her.
Und so jagte der Märchenprinz auf einem Ziegenrücken den Glasberg empor, bis er den Zufahrtsweg eines großen Schlosses erreicht hatte, dessen Wehrtürme hoch in den Himmel ragten. Vor ihm lag eine Treppe. Daß er am Ziel war, erkannte er an einer Papptafel, die an einem Eisenpfosten befestigt war. Sie trug folgende Aufschrift: HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH. SIE HABEN DAS VERWUNSCHENE SCHLOSS ERREICHT. DIE SCHLAFENDE PRINZESSIN BEFINDET SICH IM ERSTEN GEMACH RECHTS AM ENDE DER TREPPE.
Mit zitternden Händen kletterte der Märchenprinz über die Außenmauer, schwamm durch den eiskalten Burggraben, durchquerte, vor Nässe tropfend, den Vorhof, ging zwischen den Wehrtürmen hindurch, betrat die Eingangshalle, in der verzauberte Diener dösten, stieg die Wendeltreppe hinauf, die sich in steilen Windungen in die Höhe schraubte, und erreichte das geflieste Vorzimmer.
Er öffnete die Tür und ging zwei Schritte weit in das Gemach hinein. In der Mitte des Raumes stand ein großes Bett, in dem die schönste Frau, die er jemals gesehen hatte, mit geschlossenen Augen lag. Es war die gleiche Frau, in deren Miniaturporträt er sich verliebt hatte, aber als er ihr jetzt gegenüberstand, fand er, daß sie unvergleichlich viel schöner als ihr Gemälde war.
KAPITEL 8
Es hätte keiner besonderen Augen bedurft, um ihre Schönheit zu erkennen, aber die Drachenaugen des Märchenprinzen sahen noch mehr. Sie durchschauten Azzies Plan und entdeckten die Falle, die der Dämon aufgebaut hatte. Sie erkannten, daß der Märchenprinz das verhaßte Gesicht von Rosenrots Verführer besaß. Was würde sie tun, wenn sie es erblickte? Die Drachenaugen konnten den Schatten des drohenden Unheils wahrnehmen, aber der Märchenprinz ignorierte die Warnung und beugte sich tief über die Prinzessin.
Das war der Augenblick, auf den Azzie von Anfang an hingearbeitet hatte.
Der Kuß! Der tödliche Kuß!
Er hatte bereits den vergifteten Dolch griffbereit auf das kleine Nachtschränkchen gelegt, und diesen würde Rosenrot benutzen, wenn sie die Augen öffnete und erkannte, wer sie geküßt hatte – der verabscheuungswürdige Verführer!
Azzie stand hinter einem Vorhang und richtete sich an sein großes unsichtbares Publikum, das zusah, wie das Drama seinen Lauf nahm.
»Meine Damen und Herren, hochverehrte Geschöpfe des Lichtes und der Finsternis, Dämonenkollegen und Engelrivalen! Ich präsentiere Ihnen jetzt das Finale des uralten und höchst erbaulichen Dramas vom Märchenprinzen und Prinzessin Rosenrot. Achten Sie auf den Erweckungskuß und sein Ergebnis!«
Während seine Worte noch nachklangen, erkannte der Märchenprinz durch die Drachenaugen den weiteren Verlauf von Azzies Plan und begann mit folgendem Monolog:
»Aha, nun ist mir klar, daß ich ein Nichts bin, ein bloßes Flickwerk aus einzelnen Körperteilen, und daß mein sogenannter Onkel Azzie, der trotz seines freundlichen Gehabes in Wahrheit ein Dämon ist, mir das Gesicht von Rosenrots Verführer gegeben hat, damit sie mich umbringt, sobald ich sie aufgeweckt habe. Nun denn, wenn dem so ist, dann soll es so geschehen. Töte mich, meine schöne Prinzessin, wenn es das ist, was dich zufriedenstellt. Doch wenn ich auch ein Niemand bin, zusammengesetzt aus Einzelteilen und Körperresten und von einem Feind zum Leben erweckt, so schlägt doch ein echtes Herz in meiner Brust, und alles, was ich sagen kann, ist: ›Ich gehöre dir, Prinzessin, verfahr mit mir, wie es dir gefällt.‹«
Rosenrot fühlte die Lippen eines Mannes auf den ihren. Sie öffnete die Augen, konnte aber zuerst nichts erkennen, da der junge Mann, der sie küßte, ihrem Gesicht so nahe war. Wie herrlich ist es, so geweckt zu werden, war ihr erster Gedanke.
Und dann sah sie sein Gesicht. Dieses Gesicht! O ihr Götter! Sie erkannte es sofort. Es war das Gesicht des Mannes, der sie verführt und dann verlassen hatte.
Ihre Augen weiteten sich. Eine weiße Hand flatterte wie eine von Heras verlorenen Tauben auf ihre Brust. Er! Er war es! Ihre andere Hand tastete hinter ihr herum und berührte den Griff eines Dolchs, der auf dem kleinen Nachtschränkchen lag. Sie hob ihn hoch…
Diese Szene hatte Azzie akribisch ausgearbeitet. Er wußte, daß der Dolch wie von selbst in Rosenrots Hand gleiten würde. Die Zuschauer, unsichtbar aber trotzdem anwesend, würden sich jetzt gespannt vorbeugen. Die Mitglieder des Preiskomitees würden sehen, wie Rosenrot ausholte und dann den Dolch in den Rücken des Märchenprinzen stieß und ihn durch sein Herz bohrte! Und wenn der Prinz dann seinen letzten Atemzug auf dem Boden ihres Gemachs aushauchte, würde Azzie aus seinem Versteck hervortreten. »O weh, kleine Prinzessin«, würde er sagen (er hatte die Rede oft geübt), »du hast den einzigen Mann getötet, den du jemals hättest lieben können, den Mann, der dich hätte erlösen können!« Und danach, fand Azzie, wäre es ein hübsches Finale, wenn Rosenrot den Dolch gegen sich selbst richten und sich so zu ewigen Qualen in den Gruben der tiefsten Hölle verdammen würde. Er hatte sogar erwogen, den Märchenprinzen noch einmal gerade lange genug ins Leben zurückzurufen, um ihm die Möglichkeit zu geben, Rosenrots Tod zu verfolgen und derartige Blasphemien auszustoßen, daß er sich ebenfalls die ewige Verdammnis verdiente. Das wäre ein schönes Ende für jemanden, der es mochte, keine ungelösten Fragen offenzulassen.