Herrick stolperte gegen Okes, der noch immer mit erhobenem Degen dastand und mit glasigen Augen auf die Reste seiner Batterie stierte.
Herrick brüllte:»Feuer, Matthew! Gib endlich den Befehl!»
Okes ließ den Degen nach unten sausen. Da und dort fügte eine Kanone der Phalarope ihre Stimme der fürchterlichen Symphonie hinzu und rumpelte dann zurück.
«Wir sind erledigt«, sagte Okes.»Wir müssen die Flagge streichen.»
«Die Flagge streichen?«Herrick starrte Okes an. Unvermittelt war die Wirklichkeit wieder da, grausam und persönlich. Tod und Übergabe waren bisher nur Worte gewesen, eine mögliche, aber unwahrscheinliche Alternative zum Sieg. Er sah Bolitho auf dem Achterdeck, dahinter die Seesoldaten. Sie feuerten schon seit einiger Zeit aus ihren Gewehren, ohne daß Herrick es bemerkt hatte. Er sah, wie Sergeant Garwood seinen Leuten Befehle zurief. Sie luden nach und feuerten eine Salve in den Rauch. Hauptmann Rennie stand mit dem Rücken zum Feind und starrte über die andere Reling, als sähe er das Meer zum erstenmal.
Pryce, der Stückmeister, schrie auf und sackte zusammen. Ein langer Splitter, aus dem Deck gefetzt, hatte sich ihm in die Schulter gebohrt. Wie ein Zahn ragte der dicke, gezackte Holzstumpf heraus. Herrick sah es und wußte, daß das andere Ende tief im Fleisch steckte. Die Splitter waren das Gefährlichste und mußten in einem Stück herausgeschnitten werden.
Herrick winkte den Männern am Hauptniedergang.»Bringt ihn nach unten zum Arzt. «Sie hatten auf einen zerfetzten Leib neben der Luke gestarrt. Herricks rauher Ton gab ihnen Kraft, den Bann abzuschütteln.
Pryce begann zu schreien.»Nein! Laßt mich hier beim Geschütz. Bringt mich nicht hinunter!»
«Tapferer Kerl«, flüsterte einer der Männer.»Er will auf seiner Station bleiben.»
Pochin spuckte auf die Kanone. Sein Speichel zischte auf dem heißen Eisen.»Quatsch! Er will lieber hier oben sterben als unten unter das Messer kommen.»
In der Takelage splitterte etwas mit lautem Krachen. Herrick schielte durch den treibenden Pulverqualm. Die Bramstenge des Großmastes wankte, und als der Wind an der befreiten Leinwand zerrte, neigte sie sich nach vorn.
Herrick formte die Hände zum Sprachrohr.»Schnell, Leute. Nach oben. Kappt die Wanten. Sonst geht auch der Vormast zum Teufel!»
Er verfolgte, wie Quintal und ein paar andere hinaufkletterten, und fuhr zurück, als eine Kanonenkugel vor ihm über das Deck pflügte und neben dem Schanzkleid in zwei verwundete Kanoniere schmetterte. Er blickte weg, weil sich ihm der Magen umdrehte, und hörte Vibart rufen:»Deckung! Die Stenge kommt runter!»
Unter mißtönendem Krachen stürzte die lange Stenge quer über das Schanzkleid, wo sie sich in einem Gewirr zerfetzter Stagen und Pardunen verfing. Das zerrissene Segel blähte sich neben dem Schiffsrumpf im Wasser und hemmte die Fregatte wie ein Treibanker.
Ein anderer Anblick setzte dem Schrecken die Krone auf: Betts, der Mann, der die feindliche Fregatte gesichtet hatte, strampelte in der verhedderten, nachschleppenden Takelage wie ein Insekt in einem Spinnennetz.
«Mit der Axt ran!«brüllte Vibart.»Klariert das Zeug!»
Betts starrte aus glasigen Augen zur Fregatte hinauf.»Helft mir, Jungs! Laßt mich nicht ersaufen!»
Aber die Äxte waren bereits am Werk. Die Männer, halb außer sich durch den Wirrwarr, waren zu betäubt, um sich um das Leiden eines einzelnen zu kümmern.
Okes packte Herrick beim Arm.»Warum streicht er nicht die Flagge? Um Jesu willen, sieh, was er uns antut!»
Herrick konnte kaum noch klar denken. Aber er sah, was Okes ihm zeigen wollte. Die Männer hatten den Mut sinken lassen. Sie duckten sich wimmernd, als die feindlichen Kugeln ihnen um die Ohren pfiffen. Nur gelegentlich erwiderte ein vereinzeltes Geschütz das Feuer: das Werk einer Handvoll Männer, geführt von einem erfahrenen, hingebungsvollen Geschützführer, der ein einseitiges Duell mit dem Feind aufrechthielt.
Herrick schloß sich gegen das Schreien der Verwundeten ab, die unter Deck geschleppt wurden. Er wollte nichts sehen. Seine Aufmerksamkeit richtete sich nur auf jenen Fleck des Achterdecks, wo Bolitho allein an der Reling stand. Der Kapitän trug keinen Hut mehr, und sein Rock war mit Pulver-und Spritzwasserflecken übersät. Ein Läufer, der auf ihn zueilte, sank im Musketenfeuer zusammen. Musketenkugeln hämmerten gegen die Backskisten und pfiffen über das Deck, doch Bolitho rührte sich nicht von der Stelle, und sein Gesicht zeigte nach wie vor den Ausdruck ruhiger Entschlossenheit. Nur ein einziges Mal blickte er auf, und zwar um nach der großen, scharlachroten Flagge zu spähen, die an der Gaffel flatterte. Wollte er sich vergewissern, daß sie noch wehte?
Herrick schüttelte den Kopf.»Er streicht die Flagge nie. Eher läßt er uns mit Mann und Maus untergehen.»
V Rum und heiße Köpfe
Das Deck krängte stark, als die Phalarope wie blind auf einen neuen Kurs ging. Bolitho wußte nicht mehr, wie oft das Schiff die Richtung gewechselt hatte, ebensowenig, wie lange das Gefecht schon dauerte. Nur eins wußte er genau: daß die Andiron ihn ausmanövrierte. Noch immer hielt sie sich in Luv und deckte ihn ab. Seine Kanoniere wurden durch ein neues Mißgeschick behindert. Der Wind ließ nach, und sie feuerten nunmehr blind in eine dicke Rauchwand, die vor dem anderen Schiff lag und sich mit dem Pulverqualm der unregelmäßigen Abschüsse der Phalarope vermengte. Der Qualm wirbelte vielfarbig durcheinander, als der amerikanische Freibeuter den Angriff fortsetzte.
Einmal, als ein launischer Windstoß den Vorhang aus Pulverqualm zerriß, hatte Bolitho das Mündungsfeuer der Andiron sehen können, lange, orangefarbene Flammen, die nacheinander aufzuckten, sobald die Geschütze gerichtet waren und ihre Kugeln die knappe Viertelmeile herüberschickten, die zwischen den beiden Fregatten lag.
Die Andiron feuerte noch. Die Kugeln kreischten durch die Takelage und zerfetzten die verbliebenen Segel. Sie beabsichtigte, die Phalarope zu entmasten. Vielleicht hegte der Kapitän den Plan, sie als Prise unter eigenem Kommando zu segeln, wie schon die Andiron.
Die langen Neunpfünder auf dem Achterdeck rollten zurück. Ihre scharfen, bellenden Abschüsse betäubten Bolitho. Er blickte in den Pulverqualm und dann über sein Schiff. Nur auf dem Achterdeck herrschte noch so etwas wie Ordnung. Fähnrich Farquhar stand an der Heckreling. Von dort aus erteilte er den Geschützführern Befehle. Rennies Seesoldaten standen ebenfalls fest. Der Pulverdampf nahm ihnen die Sicht, doch sobald das feindliche Schiff in dem erstickenden Rauch sichtbar wurde, eröffneten sie von ihrer Position hinter den Backskisten aus das Feuer.
Auf dem Hauptdeck sah es anders aus. Bolithos Augen wanderten über das Chaos aus aufgerissenen Planken und menschlichen Körperteilen. Die Batterien feuerten noch, aber in größeren Abständen und weniger treffsicher.
Bolitho hatte über den Erfolg der ersten Breitseite gestaunt. Ihm war klar, daß sich der Mangel an Ausbildung später hemmend auswirken mußte, doch auf einen so guten Auftakt hatte er nicht zu hoffen gewagt. Die doppelt geladenen Kanonen hatten fast gleichzeitig gefeuert. Er hatte gesehen, wie das Schanzkleid der anderen Fregatte zersplitterte, und beobachtet, wie die Kugeln in den Rumpf schlugen oder durch die dicht gedrängten Kanoniere fetzten. Einen Augenblick hatte es den
Eindruck erweckt, daß sie das Gefecht erfolgreich durchstehen könnten.
Durch den wabernden Pulverdampf sah er, daß Herrick langsam von einem Steuerbordgeschütz zum anderen ging, mit den Kanonieren sprach und jedes Geschütz selber richtete, ehe er dem Geschützführer erlaubte, die Abzugsleine zu ziehen. Auf der Steuerbordseite wäre das eigentlich die Aufgabe von Okes gewesen, aber vielleicht war Okes, wie so viele andere, schon gefallen. Bolitho musterte jede Einzelheit des quälenden Bildes, das die Phalarope jetzt bot. Er fühlte sich benommen, aber Auge und Verstand funktionierten in kalter Übereinstimmung, wodurch Qualen und Leiden nur um so deutlicher hervortraten.