Die plötzliche Stille schreckte mehr als das Bellen der Kanonen. Man hörte jetzt das Scheuern und Schaben der Rundhölzer, das Gurgeln des Wassers und das Klappern der hin- und herschwingenden Teile der Takelage. Selbst die Verwundeten schienen überwältigt. Keuchend lagen sie da und stierten zu dem reglosen Kapitän an der Achterdeckreling hinauf.
Wie eine letzte Beleidigung trieb ein wildes Hurrarufen mit dem Pulverqualm über das Wasser zur Phalarope herüber. Hört sich wie das Gebell einer Meute an, dachte Bolitho bitter. Wie das Bellen von Hunden, die zum Sprung an die Kehle ansetzen.
Der Qualm riß keilförmig auf. In der Lücke erschien der Bug der Andiron, der lange Finger ihres Bugspriets. Sonnenstrahlen spielten über ihre Galionsfigur und schimmerten auf gezückten Entermessern und erhobenen Enterspießen. Immer mehr Teile des feindlichen Schiffes wurden sichtbar, und Bolitho erkannte, daß die Mannschaft der Andiron auf den Punkt zudrängte, an dem die Schiffe sich berühren würden. Andere, mit Enterhaken bewaffnet, kletterten auf die Rahen hinaus, bereit, die zwei Schiffe fest aneinander zu klammern. Damit stand das Ende nahe bevor.
«Diese Bastarde«, murmelte Stockdale neben Bolitho.»Diese Bastarde.»
Bolitho bemerkte Tränen in Stockdales Augen und wußte, daß der Bootsmann sein Elend teilte.
Die Flagge wehte in einem leichten Windstoß plötzlich aus. Bolitho wagte nicht hinaufzusehen. Ein trotziger Fleck Rot. So rot wie die Röcke der Seesoldaten und die Blutlachen, die durch die Speigatten wegsickerten, als ob das Schiff vor seinen Augen verblutete. Neue Wut durchfuhr ihn, und er mußte die Finger um den Degengurt klammern, damit ihm die Hände nicht zitterten.
«Holen Sie Mr. Brock! Los, im Laufschritt!»
Bolitho sah, wie Fähnrich Maynard losrannte, vergaß ihn aber, als sein Blick über die Männer glitt. Sie waren erschöpft. Die Anstrengungen der Schlacht hatten sie erledigt. Sie zeigten kaum noch einen Funken Kampfgeist. Bolithos Finger krampften sich um den Degengriff, und er spürte Verzweiflung. Im Geiste sah er seinen Vater und viele andere seiner Familie vor sich. Sie hatten sich der Mannschaft zugesellt und beobachteten ihn schweigend.
Proby sagte heiser:»Ich habe ein paar Männer zum Spleißen der Rudertalje abkommandiert, Kapitän. «Er wartete und zerrte an den Knöpfen seines schäbigen Rockes.»Es war nicht Ihre Schuld, Sir. «Er bewegte sich unruhig unter Bolithos festem Blick.»Geben Sie nicht auf, Sir. Noch nicht.»
Brock kam auf das Achterdeck und salutierte.»Sir?«Er steckte noch in den Filzschuhen, die er stets in dem dunklen Magazin trug. Die plötzliche Stille und das Maß der Zerstörung an Deck schienen ihn zu betäuben.
«Mr. Brock, ich habe einen Auftrag für Sie. «Bolitho lauschte der eigenen Stimme und spürte, daß ihn die neue Entschlossenheit anfeuerte wie Brandy.»Ich wünsche, daß jede Steuerbordkanone mit Kettengeschossen geladen wird. «Er warf einen Blick auf die sich immer bedrohlicher nähernde Andiron. »Sie haben zehn Minuten Zeit, es sei denn, der Wind frischt auf.»
Brock nickte und eilte wortlos davon. Es war nicht seine Art, einen offenbar sinnlosen Befehl in Frage zu stellen. Eine Order des Kapitäns, das war alles, was er brauchte.
Bolithos Blicke schweiften über das Hauptdeck, über die Toten, die Verwundeten und die noch einsatzfähigen Kanoniere. Langsam sagte er:»Es geht um eine letzte Breitseite, Leute. «Die Worte fegten seine Illusion hinweg, den Männern mit einer leeren Geste zu kommen.»Jede Kanone wird mit Kettengeschossen geladen, und jede ist auf äußerste Richthöhe einzustellen.»
Die Männer regten sich. Ihre Bewegungen waren so unbestimmt und unsicher wie die alter Männer. Doch Bolithos Worte schienen ihnen neue Kraft zu geben.
«Ladet«, setzte er energisch nach,»aber rennt die Kanonen nicht aus, ehe der Befehl kommt.»
Ein Kommando schleppte die unhandlichen Kettengeschosse heran: zwei durch dicke Kettenglieder verbundene Kugeln für jede Kanone.
«Die Andiron ist schon sehr nahe, Sir«, sagte Hauptmann Rennie leise.»Kann nicht mehr lange dauern, bis sie uns entern. «Spannung lag in den Worten.
Bolitho blickte beiseite. Einerseits fühlte er plötzlich den Wunsch, die Außerordentlichkeit seiner Entscheidung jemandem mitzuteilen, andererseits spürte er zugleich das Ausmaß der eigenen Einsamkeit. Sein letzter Versuch konnte völlig fehlschlagen. Er würde den Feind in eine wahnsinnige Wut treiben, die dann nur das Hinmetzeln seiner gesamten Mannschaft besänftigen konnte.
Herrick blickte ohne zu blinzeln zum Achterdeck.»Alle
Kanonen geladen, Sir. «Er reckte die Schultern, wie um seinen zerschlagenen Männern Vertrauen zu schenken.
Bolitho zog den Degen. Er hörte, daß die Seesoldaten hinter ihm die Bajonette aufpflanzten und auf den glitschigen Planken einen festen Stand suchten.
«Steuerbordkarronade feuerklar, Mr. Farquhar!«rief er.»Alles bereit?»
Aus zusammengekniffenen Augen verfolgte er, wie der Bugspriet der Andiron sich dem Schanzkleid der Phalarope näherte. Ihre Wasserstagen und das Rigg wimmelten von Männern. Der Kapitän der Andiron mußte seine Geschütze entblößt haben, um ein so großes Enterkommando zusammenzustellen. Einmal an Bord, würden die Feinde die Phalarope überschwemmen, ganz gleich, welchen verzweifelten Widerstand seine Männer noch leisteten.
Farquhar schluckte schwer.»Bereit, Sir.»
«Sehr gut. «Zwischen derAndiron und der Phalarope klafften kaum noch zwanzig Fuß, das dreieckige Stück Wasser zwischen den Schiffen schäumte in einem verrückten Tanz.»Wenn ich falle, hören Sie auf Mr. Vibarts Kommando. «Er sah, daß der junge Offizier zum Ersten hinüberblickte.»Wenn nicht, achten Sie auf mein Signal.»
Der Bugspriet der Andiron stieß zwischen die Großwanten der Phalarope, und das Enterkommando brach in höhnisches Gebrüll aus.
Bolitho rannte zum Hauptdeck hinunter und sprang, den Degen hoch erhoben, auf den Steuerbordlaufgang. Ein paar Pistolenschüsse pfiffen an ihm vorbei, und eine Kugel zerrte an seinem Ärmel wie eine unsichtbare Hand.
«Werft die Enterer zurück!»
Die Kanoniere starrten unsicher und betroffen zum Kapitän hinauf, ihre Kanonen noch immer binnenbords und untätig.
Herrick sprang neben den Kapitän. Seine Augen blitzten, als er rief:»Vorwärts, Leute! Erteilen wir ihnen eine Lehre.»
Irgendwo erklang ein schwaches Hurra, und die nicht an den Geschützen beschäftigten Männer drängten zum Laufgang hinauf. Würden ihre Dolche und Spieße gegen den Druck der Enterer etwas ausrichten?
Neben Bolitho sank ein Mann schreiend zu Boden. Ein anderer fiel nach vorn über Bord und wurde zwischen den
Schiffsrümpfen zerquetscht.
Bolitho sah, daß die Offiziere des Kaperschiffs ihre Männer antrieben und die Scharfschützen auf ihn aufmerksam machten. Kugeln umpfiffen ihn, und die Schreie und Rufe steigerten sich zu einem einzigen, furchterregenden Gebrüll.
Die Schiffsrümpfe erbebten nochmals, und die Lücke begann sich zu schließen. Bolitho spähte nach achtern zu Farquhar. Das Achterdeck mit seinen gefallenen Seesoldaten schien weit entfernt. Aber als er, schnell und schneidend, den Degen nach unten senkte, registrierte er, daß der Fähnrich die Abzugsleine zog, und spürte, daß das Mündungsfeuer wie Glutwind an seinem Gesicht vorbeischoß.