Als alle die Kajüte verlassen hatten, ging er zum Heckfenster. Eine Minute lang plagten ihn nagende Zweifel. Er hatte ungestüm gehandelt, ohne die möglichen Folgen gründlich zu überlegen. Geschick und Fähigkeit entschieden nur die Hälfte, für die andere brauchte man Glück. Und wenn er sich jetzt geirrt hatte, konnte kein Glück der ganzen Welt das ausgleichen.
Er bemerkte, daß ihn Ferguson vom Tisch her wie ein hypnotisiertes Kaninchen anstarrte. Den hatte er ganz vergessen. Immerhin, die Geschichte, die er im Logis zum besten geben würde, konnte der schwindenden Moral des Schiffes nur gut tun. Wenn die Phalarope diesmal Glück hatte, würde alles anders aussehen. Und wenn nicht? Er zuckte mit den Schultern. Nur wenige würden dann mit dem Leben davonkommen, um die Sache zu diskutieren.
Er hörte die Achterwache an den Brassen. Das Deck legte sich schräg, als die Fregatte durch den Wind ging. Im Heckfenster tauchte für einen Augenblick der kleine Lugger auf. Er vollzog das gleiche Manöver, um neben der Fregatte zu bleiben. Während Bolitho den Lugger betrachtete, fragte er sich, wieviele Männer bereits den scharfäugigen Ausguck verfluchten, der ihn gesichtet hatte.»Jetzt werden Sie Ihrer Frau etwas erzählen können, Ferguson. Vielleicht wird sie stolz auf Sie sein.»
Bolitho erhob sich von der Achterducht des Kutters. Hände packten zu und zogen ihn ohne große Umstände über das niedrige Schanzkleid des Luggers. Einige Sekunden stand er schwankend auf dem unvertrauten Deck und versuchte, seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen.
Der Kutter hatte bereits wieder abgelegt. Bis auf den weißen Schaum, der um seine Riemen quirlte, war er bereits in der Nacht untergetaucht. Bolitho versuchte, die Phalarope auszumachen, aber auch sie war nicht zu erkennen. Kein Lichtpünktchen verriet ihre Anwesenheit. Er rief sich die Karte und die Gestalt der Insel ins Gedächtnis, die irgendwo vor dem stumpfen Bug des Luggers lag. Hauptmann Rennie tauchte aus der Dunkelheit auf.»Ich habe die Seesoldaten unter Deck geschickt, Sir. «Er flüsterte, was gar nicht notwendig gewesen wäre.»Sergeant Garwood wird darauf achten, daß sie sich bis zum Einsatz still verhalten.»
Bolitho nickte. Hatte er auch nichts dem Zufall überlassen? Er ging in Gedanken noch einmal alles durch.»Haben Sie sich vergewissert, daß die Gewehre und Pistolen ungeladen sind?»
Rennie nickte.»Jawohl, Sir. «Es klang, als meinte er: >Natürlich, Sir!< Ein vorzeitiger Schuß im falschen Moment, ein Seesoldat, der aus Nervosität abzog, und ihr Leben war noch weniger wert als schon jetzt.
«Gut. «Bolitho tastete sich nach achtern. Dort stand Stockdale breitbeinig neben der rohen Ruderpinne. Den Kopf hatte er nach hinten gelegt, um auf die schlagenden Segel zu achten. Fähnrich Farquhar wachte neben einem formlosen Bündel, in dem Bolitho den unglücklichen spanischen Schiffer erkannte. Er sollte als Unterpfand und Führer dienen.
«Denken Sie, daß wir unbemerkt unter Land kommen, Sir?«fragte Rennie.
Bolitho blickte zu den hohen, glitzernden Sternen auf. Nur die allerschwächste Andeutung einer Mondsichel schwebte silbern über ihrem Spiegelbild im flachen Wasser. Die Nacht war finster genug, alles zu verbergen. Vielleicht zu finster.
«Wir werden sehen«, sagte er.»Lassen Sie Fahrt aufnehmen, und achten Sie darauf, daß die Kompaßlaterne gut abgeblendet ist. «Er kehrte Rennie und dessen Fragen den Rücken und drängte sich an den hockenden Matrosen vorbei, deren Augen ihm folgten. Gelegentlich hörte er das Schaben eines Entermessers oder ein dumpfes Klirren vom Bug, wo McIntosh, ein Artilleriemaat, in letzter Minute nochmals seine in aller Eile montierte Drehbasse prüfte. Sie war mit Kartätschen geladen, die auf kurze Entfernung tödlich wirkten. Der erste Schuß muß sitzen, überlegte Bolitho grimmig. Für einen zweiten ist unter Umständen keine Zeit.
Er fragte sich, was Vibart denken mochte, der nun die Verantwortung für die Fregatte trug und Stunden warten mußte, bis er seinen Part bei der Aktion spielen konnte. Er dachte an das Gesicht, das Herrick gemacht hatte, als er ihm sagte, daß er Leutnant Okes auf den Lugger mitnehmen würde. Herrick wußte, daß es keine andere Wahl gab. Okes war dienstälter, und es war nur gerecht, daß er die Chance bekam, sich einen Namen zu machen. Oder vor Herrick zu sterben, dachte Bolitho trocken. Vibarts Rang und Dienstalter geboten es, ihm den zeitweiligen Befehl über die Fregatte zu übertragen. Und falls Vibart und er fielen, konnte Herrick noch immer die Sprossen der Rangleiter erklimmen.
Bolitho blickte finster in die Dunkelheit und verfluchte sich wegen seiner morbiden Gedanken. Vielleicht war er durch das Planen und Vorbereiten schon zu erschöpft, um noch denken zu können. Den ganzen Tag über, während die Fregatte auf die Insel Mola zusteuerte, hatte lebhafte Geschäftigkeit geherrscht. Männer und Waffen waren auf den Lugger hinübergeschafft worden, dessen Ladung man über Bord geworfen oder zur Phalarope hinübergepullt hatte. Im Laderaum des Luggers befanden sich jetzt die Seesoldaten. Die Leute hatten zu viel damit zu tun, gegen die Übelkeit anzukämpfen, die ihnen der Gestank von Fischöl und verdorbenem Gemüse bereitete, um daran zu denken, was vor ihnen lag. Mathias, Bolithos Schreiber, war gestorben und mit einem kurzen Gebet dem Meer übergeben worden. Sein Tod und die Beisetzung hatten die hektischen Vorbereitungen nicht unterbrochen, und jetzt konnte man sich kaum noch an sein Gesicht erinnern.
Leutnant Okes stolperte über das Deck heran. Er ging gebückt, als erwarte er, gegen unsichtbare Gegenstände zu stoßen. Er erspähte Bolitho und murmelte:»Alle — alle Leute klar, Sir. «Es klang angespannt und nervös.
Bolitho grunzte. Der Zweite bereitete ihm schon seit einiger Zeit Sorgen. Okes hatte sich sogar erboten, an Herricks Stelle auf der Fregatte zu bleiben, was sehr sonderbar war. Bolitho wußte, daß Okes nicht reich war. Jede Beförderung außerhalb der Reihe und ein lobender Bericht in der Gazette hätten für seine Karriere viel bedeutet. Wahrscheinlich hat er Angst. Nun, bis auf Wahnwitzige mußte jeder Angst haben, dachte Bolitho.
«Wir werden die Landzunge bald sichten«, antwortete er.»Die hohe Brandung muß sie anzeigen. «Er rief sich mit aller Macht das Bild vor Augen, das er sich von der Insel gemacht hatte. Sie glich irgendwie einem Hufeisen, die tiefe Reede lag zwischen zwei geschwungenen Landspitzen verborgen. Die Ortschaft befand sich auf der dem Meer zugekehrten Seite der ihnen zunächst liegenden Landzunge. Dort war der einzige flache Strand der ganzen Insel. Nach der Karte und den Angaben, die er aus dem Spanier herausgequetscht hatte, waren Reede und Ortschaft durch einen unebenen Weg verbunden, der mit Hilfe einer Holzbrücke eine tiefe Schlucht überquerte. Die Spitze der Landzunge war durch diese Schlucht isoliert. Auf dem höchsten Punkt sollte eine starke Batterie postiert sein, wahrscheinlich Vierundzwanzigpfünder. Sie konnten die ganze Reede leicht verteidigen. Eine Sandbank und mehrere Riffe machten außerdem jede Annäherung zu einem Risiko. Im Grunde war es unmöglich, ohne gutes Tageslicht einzulaufen. Kein Wunder, daß die Franzosen diese Insel zu ihrem Stützpunkt gewählt hatten.
«Die Landzunge, Sir!«Ein Matrose wies nach vorn.»Dort,
Sir.»
Bolitho nickte und ging nach achtern.»Gut achtgeben, Stockdale! Etwa eine Viertelmeile voraus liegt das Ufer. Dort soll eine Landungsbrücke aus Holz sein, wenn man den Angaben des Spaniers trauen darf.»
Im Bug warf ein Matrose das Lot aus und meldete heiser:»Etwa Strich zwei, Sir.»
Zwei Faden Wasser unter dem Kiel, und noch waren sie weit vom Land entfernt. Ein Überraschungsangriff konnte in der Tat nur von einem so kleinen Boot wie dem Lugger ausgeführt werden. Und das Überraschungsmoment war ihr einziger Vorteil. Niemand, der bei gesunder Vernunft war, würde erwarten, daß ein einzelnes kleines Boot sich dieser stark befestigten Insel bei völliger Dunkelheit näherte.