Bolitho berührte die Narbe mit den Fingerspitzen. Er stand vor dem offenen Fenster, und das bißchen frische Luft spielte über seine nackte Haut. Schön, daß er den Verband los war! Er hatte ihn ständig an die Andiron und das, was davor lag, erinnert. Aber er wollte die Vergangenheit ruhen lassen. Die Gegenwart brachte Ärgernisse genug, mit denen er fertig werden mußte.
Vor vierzehn Tagen hatten sie mit dem Geschwader in Antigua abgelegt, und fast jeder Tag war wie der heutige gewesen. Kaum ein Wind, der den Namen Brise verdient, ein bißchen Kühlung gebracht oder gar die hungrigen Segel gefüllt hätte. Dafür die ganze Zeit eine glühende Sonne, die selbst den Himmel auszubleichen schien. Die Nächte brachten wenig Erleichterung. Die Luft in den Zwischendecks blieb feucht und stickig, und die ermatteten Matrosen wurden an den Rand der Verzweiflung getrieben, weil sie in einem fort an die Brassen gepfiffen und dann wieder weggeschickt wurden, weil der Wind sich gelegt hatte, ehe ein einziges Segel bedient werden konnte.
Genug, um das standhafteste Herz zu brechen, dachte Bolitho. Dazu kam die Tatsache, daß sie kein einziges Segel gesichtet und nichts von den Ereignissen jenseits des fernen Horizonts erfahren hatten. Er mußte alle Kraft zusammennehmen, um die eigene Ungeduld zurückzudrängen.
«Was machen die Männer?«Er griff nach einem sauberen Hemd, zog dann aber die Hand zurück. Das alte mußte reichen. Was hatte es für einen Sinn, seinen Diener damit zu plagen, mehr als unbedingt notwendig zu waschen?
Ellice zuckte mit den Schultern.»Fröhlich sind sie gerade nicht, Sir. Es ist schon schlimm genug, auch ohne daß sie die ganze Zeit über nach einem Schluck Wasser lechzen.»
«Wasser ist kostbar, Mr. Ellice. «Die Ration hatte jetzt auf eine Pinte pro Kopf und Tag herabgesetzt werden müssen, was beileibe nicht ausreichte. Aber wer wußte schon, wie lange diese Patrouille dauern würde? Er hatte die Tagesration an Mm Taylor, wie der herbe Weißwein aus dem Versorgungsdepot genannt wurde, heraufgesetzt, aber das schaffte nur zeitweilige Abhilfe. In wenigen Stunden waren die Leute genauso durstig wie vorher.»Ich muß so viel frisches Obst ausgeben lassen wie möglich«, murmelte er vor sich hin.»Die einzige Möglichkeit, Krankheiten vorzubeugen.»
Sonderbar, welch ein Geschrei und welche Debatten es in Antigua gegeben hatte, als er auf einer vollen Ladung Obst für seine Mannschaft bestand. Vielleicht hatte der Admiral darauf angespielt, als er sagte: >Sie sind in vieler Hinsicht ein Idealist!< Doch seinem auf die Praxis gerichteten Geist kam es nur vernünftig vor. Obwohl er das Obst aus eigener Tasche bezahlt hatte, war das eine bessere Anlage als die Methode, sich bei den Männern sonstwie beliebt zu machen. Ein tüchtiger und gesunder Matrose war weitaus mehr wert als ein Korb Früchte. Doch das war ja nicht alles. Die Erkrankten wurden von ihren Gefährten gepflegt, und auch deren Arbeit mußte dann wieder von anderen mitgemacht werden. Und so ging es weiter. Doch gab es noch immer viele Kapitäne, die als Maßstab ihrer Erfolge nur die Höhe der Prisengelder kannten. Er schob das Hemd in die Hose und sagte:»Trinken Sie einen Schluck, wenn Sie wollen, Mr. Ellice. «Er sah nicht hin, als der dicke Mann schnell zum Wandschrank watschelte und sich eine gehörige Portion Brandy einschenkte.
Ellices Hand zitterte, als er sich einen zweiten Drink eingoß und hinunterstürzte. Dann murmelte er:»Vielen Dank, Sir. Der erste heute.»
Bolitho blickte auf das sich kaum bewegende Kielwasser. Die Sonne stand hoch am Himmel. Wahrscheinlich hatte Ellice sich schon eine anständige Portion aus seinem Privatvorrat zu Gemüte geführt.»Sie sind in Antigua gar nicht an Land gegangen, Mr. Ellice? Sie hätten nur zu fragen brauchen.»
Ellice fuhr mit der Zunge über die Lippen, und seine Augen glitten über die Karaffe.»Ich gehe nie mehr an Land, Sir. Aber vielen Dank. Anfänglich bin ich jedesmal wie ein liebeskrankes Mädchen im Gras spazierengegangen und habe dann geweint, wenn die Küste wieder hinter der Kimm versank. «Er sah, daß Bolitho zur Karaffe nickte, und goß sich schnell noch einen Drink ein.»Jetzt schaue ich kaum hoch, wenn das Schiff ausläuft. «Er schüttelte den Kopf.»Außerdem habe ich sowieso alles gesehen.»
Es klopfte. Ehe Bolitho >herein< rufen konnte, wurde die Tür aufgestoßen, und Leutnant Vibart stampfte in die Kajüte. Er sah überanstrengt und wütend aus und platzte sofort mit seiner Nachricht heraus.»Ich muß melden, daß wir kaum noch Frischwasser haben, Sir.»
Bolitho musterte ihn einige Sekunden.»Was sagen Sie?»
Vibarts Blicke flogen durch die Kajüte.»Ich habe den Küfer draußen. Es dürfte Zeit sparen, wenn er Ihnen selber Meldung erstattet.»
Bolitho ignorierte Vibarts ungebührliches Benehmen.»Holen Sie ihn herein. «Er war froh, daß er mit dem Rücken zum Heckfenster stand, so daß sein Gesicht im Schatten lag. Alles schien sich gegen ihn zu verschwören und ihn zu verhöhnen. Eben hatte er die vorrangige Sorge offen mit Ellice diskutiert, da loderte sie auch schon wie ein Feuerbrand auf.
Mr. Trevenen, der Küfer der Phalarope, war ein zwergenhafter, für seine extrem schwachen Augen bekannter Unteroffizier. Er hatte zu lange Jahre in zu vielen dunklen Laderäumen zugebracht. Jetzt war er halb blind wie ein Nachtgeschöpf. Während er unter Bolithos festem Blick unruhig blinzelnd von einem Fuß auf den anderen trat, wirkte er klein und wehrlos.
Bolitho unterdrückte das Mitleid, das er bei den seltenen Begegnungen mit dem Küfer stets empfand.»Nun, heraus damit, Mann! Was, zum Teufel, haben Sie entdeckt?»
Trevenen schluckte.»Ich habe meine Runden gemacht, Sir. Ich mache sie immer donnerstags, ja. Wenn man nach einem System inspiziert, kann man — »
«Sagen Sie es ihm, Sie alter Narr!«bellte Vibart.
«Zwei Drittel meiner Fässer enthalten plötzlich brackiges Salzwasser, Sir«, sagte er leise und sah zu Boden.»Ich verstehe es nicht.
So lange ich auch schon zur See fahre, so etwas habe ich noch nicht erlebt.»
«Halten Sie Ihr Maul, verdammt!«Vibart sah aus, als wollte er auf den zerknirschten Küfer losgehen.»Gestehen Sie, daß Ihnen in Antigua ein Irrtum unterlaufen ist. Sie sind so verflucht blind, daß Sie den Unterschied nicht gemerkt haben. Wenn es nach mir ginge, würde ich. .»
Um Zeit zu gewinnen und sich von dem Schock zu erholen, sprach Bolitho sehr langsam.»Bitte, Mr. Vibart! Ich denke, ich kann die Bedeutung dieser Meldung auch so ermessen. «Er wandte sich wieder Trevenen zu.»Sind Sie sich Ihrer Feststellung völlig sicher?»
Der Küfer nickte heftig.»Kein Irrtum möglich, Sir. «Er sah den Kapitän an. Sein Gesicht schien bloß aus den blassen Augen zu bestehen.»In all den Jahren, die ich — »
«Ich weiß, Mr. Trevenen, Sie haben es uns gerade gesagt. «Und dann scharf:»Sehen Sie gleich mal selbst nach den Fässern, Mr. Vibart. Trennen Sie die mit Frischwasser von den anderen. Und lassen Sie das Salzwasser wegschütten und die Fässer reinigen. «Er ging zum Tisch und beugte sich mit gerunzelter Stirn über die Karte.»Wir sind hier. «Er tippte mit dem schweren Zirkel auf die Karte.»Etwa fünfzig Meilen südwestlich von Guadeloupe. «Er langte nach dem Lineal und schob es über das dicke Pergament.»Südlich von uns liegen einige kleine Inseln. Sie sind unbewohnt und werden von niemandem genutzt, es sei denn, um unbotmäßige Matrosen auszusetzen. «Er zeichnete ein kleines Kreuz auf die Karte.»Lassen Sie alle Mann an Deck pfeifen, Mr. Vibart, und bereiten Sie alles zum Halsen vor. So gering die augenblickliche Brise auch ist, für unseren Zweck reicht sie. «Dann sah er Trevenen an.»Was auch der Grund für den Verlust sein mag, wir brauchen Wasser, und zwar schnell. Also bereiten Sie mit Ihrem Kommando alles vor, um einen Vorrat Frischwasser zu übernehmen. «Trevenen blinzelte, als erlebe er ein Wunder.»In zwei Tagen sind wir unter Land, wenn es auffrischt, sogar früher. Ich kenne die Inseln. «Er berührte die Narbe unter dem in die Stirn fallenden dunklen Haar.»Auf einigen gibt es Bäche und Teiche.»