Leutnant Okes tauchte am hohen Uferrand auf und führte die Hand an den Hut.»Alle Arbeitstrupps bereit, Sir. «Er wirkte beunruhigt.
Bolitho nickte.»Sie kennen Ihre Order, Mr. Okes. Folgen Sie der Karte, die ich Ihnen gezeichnet habe, und Sie werden das Frischwasser ohne Schwierigkeiten finden. Treiben Sie die Leute an. Sie werden jeden verfügbaren Mann brauchen, um die vollen Fässer zum Ufer zu schaffen.»
Er sah den Küfer Trevenen an der Spitze einer anderen Abteilung forteilen, begleitet von Zimmermann Ledward, der seinen Holzvorrat zu ergänzen hoffte. Hier wird er nicht viel finden, dachte Bolitho düster. Diese kleinen Inseln waren öde. Bis auf gelegentliches Wasserfassen kam hier niemand an Land. Der Erdboden war unter ganzen Lagen verrottender Vegetation verborgen, deren scharfer Geruch sich mit dem von Möwenkot und kleinen Pilzkolonien mischte.
Weiter im Inneren erhoben sich ein paar rundrückige Hügel, von deren Kuppen aus man in jeder Richtung das Meer sah.
Okes folgte seinen Leuten. Vor dem grünen Buschwerk zeichnete sich flüchtig Farquhars schlanke Gestalt ab, ehe auch er verschwand. Bolitho hatte den Fähnrich vorsätzlich an Okes' Seite befohlen. Es würde beiden gut tun, beim Kommando der Hauptgruppe zusammenzuarbeiten, und sei es auch nur, um die Gespanntheit zwischen ihnen abzubauen. Man hatte den Eindruck, daß Farquhar eine Art Spiel mit Okes trieb. Seit Farquhar von der Andiron entkommen war, hatte er kein Wort mehr mit Okes gesprochen. Doch anscheinend reichte schon Farquhars bloße Anwesenheit, um den Zweiten Leutnant in ständige Aufregung zu versetzen.
Okes hatte während des Rückzugs von der Insel Mola übereilt gehandelt. Aber so lange er das nicht offen eingestand, lag wenig Sinn darin, die Angelegenheit zu verfolgen, dachte
Bolitho. Er verstand Farquhar durchaus und fragte sich, wie er unter solchen Umständen reagiert hätte. Farquhars gesunder Instinkt sagte ihm offenbar, daß eine Laufbahn aus mehr als billigen Triumphen bestehen mußte. Sein Herkommen, die Sicherheit, die eine einflußreiche Familie gab, und sein Selbstvertrauen befähigten ihn, seine Zeit abzuwarten.
Herrick kam die Böschung herauf und fragte:»Kehren wir zum Schiff zurück, Sir?»
Bolitho schüttelte den Kopf.»Wir wollen noch ein Stück weiter ins Land, Mr. Herrick. «Er zwängte sich durch verdorrtes Gebüsch. Sie entfernten sich vom Ufer. Herrick ging schweigend neben Bolitho und dachte über die Fremdartigkeit der Landschaft nach. Hier fehlte das leise Rauschen der See, statt dessen war die Luft schwer von fremden Gerüchen.
Nach einer Weile sagte Bolitho:»Hoffentlich treibt Okes die Leute zur Arbeit an. Jede Stunde kann kostbar sein.»
«Denken Sie an die Franzosen, Sir?»
Bolitho wischte sich den Schweiß vom Gesicht und nickte.»De Grasse kann inzwischen gut und gern aufgebrochen sein. Wenn er sich so verhält, wie es Sir George Rodney vermutet, dürfte seine Flotte bereits nach Jamaika unterwegs sein. «Seine Blicke wanderten verdrossen von den schlaffen Blättern zum wolkenlosen Himmel.»Kein Lufthauch. Nichts. Wir können von Glück sagen, daß uns die Brise bis hierher gebracht hat.»
Herrick atmete schwer.»Mein Gott, Sir, ich spüre die Anstrengung. «Er tupfte sich das Gesicht ab.»Seit Falmouth habe ich kein Land mehr unter den Füßen gehabt. Ich wußte gar nicht mehr, wie das ist.»
Falmouth. Der Name weckte eine Flut von Erinnerungen in Bolitho, während er blicklos durch das dicke Gestrüpp schritt. Sein Vater würde noch immer warten, sich Gedanken machen und den Schmerz nähren, den ihm Hugh bereitet hatte. Bolitho fragte sich, was geschehen wäre, wenn er bei jenem ersten fürchterlichen Zusammentreffen seinen Bruder im Heck der Andiron gesehen und erkannt hätte. Hätte er dann den Angriff genauso stürmisch vorgetragen? Wenn er Hughs Tod bewirkt hätte, wäre die Navy zufrieden gewesen. Aber im tiefsten Innern wußte Bolitho, daß diese Tatsache den Kummer seines Vaters nur gesteigert und sein Gefühl des Verlustes nur noch erhöht hätte.
Vielleicht führte Hugh bereits ein anderes Schiff. Bolitho wischte den Gedanken fort. Einem Mann, der es zuließ, daß die Andiron in die von ihr selbst gestellte Falle ging, würden die Franzosen nicht noch einmal ein Prisenschiff anvertrauen. Und die amerikanische Rebellenregierung besaß zu wenig Schiffe. Nein, Hugh hatte in diesem Augenblick genug eigene Probleme.
Bolitho dachte auch an Vibart, in dessen Obhut die Fregatte augenblicklich war. Merkwürdig, wie Evans' Ermordung den Ersten berührt hatte. Bolitho hatte Evans für einen Speichellecker gehalten, aber nie und nimmer für Vibarts Freund. Doch Vibart schien durch Evans' Tod einen Vertrauten verloren zu haben, durch den seine Isoliertheit gemildert worden war. Bolitho wußte, daß Vibart ihm Evans' Tod ankreidete und daß er Allday als den offensichtlichen Täter haßte. Vibart betrachtete Menschlichkeit als Sentimentalität. Beides galt ihm als nutzloses Hindernis bei der Pflichterfüllung.
Bolitho wußte auch, daß er mit Vibart nie über etwas einer Meinung sein würde. Seine Leute menschenwürdig zu behandeln, Verständnis für ihre Probleme zu haben und ihre Loyalität zu gewinnen, das stand für Bolitho obenan. Zugleich aber wußte er, daß er mit diesem schwierigen und verbitterten Mann auskommen mußte, denn das Kommando eines Kriegsschiffs ließ wenig Raum für persönliche Abneigung unter den Offizieren.
Bolitho blieb plötzlich stehen und deutete mit der Hand auf einen Punkt.»Ist das ein Seesoldat?»
Herrick blieb neben ihm stehen, er atmete schwer. Zwischen den schlaffen Blättern blitzten rote Röcke auf. Und gerade als Bolitho hinüber wollte, tauchte Sergeant Garwood an der Spitze eines Zuges schwitzender Seesoldaten auf.»Was tun Sie hier an Land, Sergeant?«fragte Bolitho scharf.
Garwood fixierte einen Punkt hinter Bolithos Schulter.»Mr. Vibart hat alle Seesoldaten ausgeschickt, Sir. «Er schluckte schwer.»Allday ist entflohen, Sir. Wir sollen ihn wieder festnehmen.»
Herrick rang nach Luft. Schweiß lief ihm über das Gesicht. Es verriet Schrecken und Enttäuschung.
«Ach so. «Bolitho unterdrückte die aufsteigende Wut und fragte ruhig:»Und wo ist Hauptmann Rennie?»
«Auf der anderen Seite der Insel, Sir. «Garwood sah nicht gerade glücklich aus.»Die Ablösung entdeckte, daß der Posten vor der Zelle mit einer Keule niedergeschlagen worden war. Er lag bewußtlos da, und der Gefangene war weg. Die Fesseln sind ihm abgenommen worden.»
«Also ist noch ein anderer beteiligt. «Bolitho fixierte das bronzefarbene Gesicht des Sergeanten.»Wer fehlt noch?»
Der Seesoldat holte tief Luft.»Ihr Schreiber, Sir, Ferguson.»
Bolitho wandte sich ab.»Nun ja. Ich nehme an, Sie suchen besser weiter, da Sie nun einmal hier sind. «Er blickte dem sich erleichtert entfernenden Mann nach und sagte dann gepreßt:»Es war übereilt von Mr. Vibart, alle Seesoldaten an Land zu schicken. Sollte die Phalarope vor Anker von einem feindlichen Schiff überrascht werden, reicht die Bemannung zur Abwehr nicht aus. «Er machte abrupt kehrt.»Kommen Sie, wir gehen zurück zum Ufer.»
Herrick sagte geknickt:»Ich bin ganz unglücklich, Sir. Ich habe das Gefühl, mehr Tadel denn je zu verdienen. Ich habe Allday vertraut und Ferguson ausgewählt.»
«Wie sich erwiesen hat, haben wir uns beide geirrt, Mr. Herrick«, sagte Bolitho tonlos.»Ein Unschuldiger flüchtet nicht. «Danach setzte er hinzu:»Und Mr. Vibart hätte seine Urteilsfähigkeit nicht durch seinen Zorn trüben lassen dürfen. Allday wird auf dieser Insel bestimmt umkommen. Er wird verrückt werden, wenn das Schiff fortgesegelt ist, und Ferguson für seine Rettung aus der Zelle nicht danken.»
Sie eilten über den Strand. Die dösenden Gasten in der Gig fuhren hoch, als die zwei Offiziere an Bord kletterten. Die Gig glitt langsam über das stille Wasser. Bolitho hob die Hand an die Augen und blickte zu der vor Anker liegenden Phalarope. Die Sonne kam eben über den nächstgelegenen Hügel, und die Rahen und Masttopps schimmerten wie Gold.