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Und wie steht’s mit Oliver?

Oliver weiß es nicht. Ich glaube dem Buch der Schädel, jawohl, weil ich an die ganze Sache glaube. Und wahrscheinlich schließe ich mich auch der wörtlichen Interpretation des Neunten an. Aber ich habe mich der Sache angeschlossen, um zu leben, nicht um zu sterben. Und ich habe mir noch keine großen Gedanken darüber gemacht, ob ich es sein werde, der den kürzeren Strohhalm zieht. Versteht man also das Neunte Mysterium so, wie wir das tun, welche werden dann die Opfer sein? Ned hat bereits zu verstehen gegeben, daß es ihm im Grunde genommen egal ist, ob er lebt oder stirbt; eines Abends im Februar hat er, als er stoned war, eine zweistündige Rede über die Ästhetik des Selbstmords vom Stapel gelassen. Mit rotem Gesicht, schwitzend und schnaufend, mit wedelnden Armen. Wie Lenin auf einer Seifenkiste. Gelegentlich konzentrierten wir uns darauf und bekamen mit, was er wollte. Okay, wir gewähren Ned den üblichen Rabatt und kommen zu dem Schluß, daß neun Zehntel von seiner Todesrede romantischer Quatsch waren. Trotzdem bleibt er immer noch der herausragendste Kandidat für einen freiwilligen Abgang. Und das Mordopfer? Eli natürlich. Ich könnte nicht derjenige sein; ich kann mich zu gut wehren und würde mindestens einen von den Hundesöhnen mit ins Grab nehmen; das wissen sie alle. Und Timothy, der ist gebaut wie ein Berg, mit ein paar Schlägen macht man den nicht fertig. Andererseits könnten Timothy und ich Eli in zwei Minuten oder noch weniger eliminieren.

Herr des Himmels, wie ich diese Art der Spekulation hasse.

Ich will niemanden umbringen. Ich will nicht, daß überhaupt einer stirbt. Ich will nur weiterleben, solange das nur irgend möglich ist.

Aber wenn die Bedingungen so aussehen? Wenn der Preis für ein Leben ein Leben ist?

Mein Gott! Mein Gott! Mein Gott!

11. Kapitel

Eli

In der Dämmerung erreichten wir Chikago nach einem langen Tag der Fahrt. Sechzig, siebzig Meilen in der Stunde; Stunde um Stunde um Stunde, nur selten von einer kleinen Pause unterbrochen. In den letzten vier Stunden haben wir gar nicht mehr angehalten. Wie ein Wahnsinniger raste Oliver über die Autobahn. Eingeschlafene Beine. Steifer Hintern. Glasige Augen. Ich hatte Watte im Kopf und war erschlagen von einer exzessiven Autofahrt. Highway-Hypnose. Als die Sonne sank, schienen alle Farben die Welt zu verlassen; nur ein alles durchdringendes Blau überschwemmte die Welt blauer Himmel, blaue Felder, blaue Straßen, das ganze Spektrum fließt ins Ultraviolette ab. Man kam sich vor wie auf einem Ozean, unmöglich herauszufinden, was über und was unter dem Horizont lag. In der letzten Nacht hatte ich nicht sehr viel geschlafen. Höchstens zwei Stunden, eher weniger. Wenn wir nicht gerade redeten oder bumsten, lagen Mickey und ich in einer Art von erschöpftem Dösen nebeneinander. Mickey! Oh, Mickey! Ich habe den Geruch von dir auf meinen Fingerspitzen. Ich inhaliere. Dreimal Stoßzeit zwischen Mitternacht und Morgengrauen. Wie scheu du zuerst warst, in diesem engen Schlafzimmer, abbröckelnde, blaßgrüne Farbe, psychedelische Poster, John Lennon und Joko mit den Hängebacken sahen auf uns hinab, als wir uns auszogen, du hast deine Schultern zusammengezogen, hast versucht, deine Brüste vor mir zu verstecken, du bist rasch ins Bett geschlüpft, hast unter den Laken Sicherheit gesucht. Warum? Glaubst du, dein Körper sei so mangelhaft? Nun ja, du bist mager, deine Ellenbogen sind spitz, deine Brüste klein. Du bist nicht Aphrodite. Mußt du das denn sein? Bin ich Apollo? Zumindest bist du nicht vor meiner Berührung zusammengefahren. Ich frage mich, ob du gekommen bist. Ich weiß das sowieso nie. Wo gibt es das Stöhnen, das Kreischen, die keuchenden Zuckungen, von denen ich gelesen habe? Wahrscheinlich nur bei anderen Frauen. Meine sind wahrscheinlich zu wohlerzogen für solche vulkanartigen Orgasmusausbrüche. Ich sollte Mönch werden, das Ficken den Fickern überlassen und meine Energien auf die Erforschung des Unbekannten lenken. Wahrscheinlich bin ich ohnehin nicht besonders gut im Bett. Origen soll mein Leitbild sein: In einem Moment der Verzückung werde ich mich entmannen und meine Eier auf dem heiligen Altar als Opfergabe niederlegen. Danach wird es mit den Verwirrungen der Leidenschaft vorbei sein. Ach was, nein, ich hab’ ja viel zuviel Spaß daran. Gewähre mir Gnade, Herr, aber bitte jetzt im Moment gerade nicht. Ich habe Mickeys Telefonnummer. Wenn ich von Arizona zurückkehre, werde ich sie anrufen. (Wenn ich zurückkomme. Falls ich zurückkomme! Und wenn und falls, was werde ich dann sein?) Mickey ist wirklich die Richtige für mich. Ich muß maßvolle sexuelle Ziele für mich setzen. Die blonde Sexbombe ist nichts für mich, auch nicht die Anführerin und auch nicht das kultivierte Mädchen aus der Oberschicht mit der Altstimme. Für mich sind süße, scheue Mäuschen gerade richtig. Olivers LuAnn würde mich nach einer Viertelstunde zu Tode geritten haben, obwohl ich mir vorstellen könnte, daß ich es einmal gerne versuchen möchte, und sei es nur ihrer Brüste wegen. Und Timothys Margo? Davon will ich gar nicht erst reden. Mickey ist die Richtige für mich: freundlich, blaß, zurückgezogen, verfügbar. Jetzt ist sie achthundert Meilen von mir entfernt. Ich würde gern einmal wissen, was sie ihren Freundinnen über mich erzählt. Soll sie mich verherrlichen. Soll sie mich verklären. Ich kann es brauchen.

Jetzt sind wir also in Chikago. Warum Chikago? Liegt das nicht abseits der direkten Route zwischen New York und Phoenix? Ich glaube schon. Wenn ich fahren würde, hätte ich den Kurs quer durch den Kontinent von einer Ecke zu der anderen gelegt, durch Pittsburgh und Cincinnati, aber wahrscheinlich sind die kürzesten Wege nicht immer die schnellsten. Wie dem auch sei, wir sind jetzt in Chikago, was auf Timothys Wunsch zurückgeht. Er hegt ganz und gar sentimentale Gefühle für diese Stadt. Hier ist er aufgewachsen; zumindest den Teil seiner Kindheit, den er nicht auf dem Gut seines Vaters in Pennsylvania verbracht hat, lebte er im Penthouse seiner Mutter am Lake Shore Drive. Gibt es überhaupt Anglikaner, die sich nicht alle sechzehn Jahre scheiden lassen? Gibt es überhaupt einen unter ihnen, der nicht über mindestens zwei Garnituren Eltern verfügt? Ich erinnere mich an Heiratsanzeigen in den Sonntagszeitungen: „Miss Rowan Demarest Hemple, die Tochter von Mrs. Charles Holt Wilmerding aus Grosse Pointe, Michigan, und Mr. Dayton Belknap Hemple aus Bedford Hills, New York, und Montego Bay, Jamaika, vermählte sich an diesem Nachmittag hier in der All Saints Episcopal Chapel mit Dr. Forrester Chiswell Birdsall IX., Sohn von Mrs. Elliot Moulton Peck aus Bar Harbor, Maine, und Mr. Forrester Chiswell Birdsall III. aus East Islip, Long Island.“ Et cetera ad infinitum. Was muß eine solche Versammlung für Ausmaße haben, mit den vervielfachten Pärchen, die sich zum Glückwunsch zusammenfinden, jedermann ist Cousin oder Cousine von allen anderen, allesamt haben, Person für Person, zwei- bis dreimal geheiratet. Die Namen, die Dreifachnamen, vom Lauf der Zeit geheiligt, die Mädchen heißen Rowan und Coate und Palmer, die Jungen heißen Amory und McGeorge und Harcourt: Ich bin mit Barbaras und Loises und Claires, Mikes, Dicks und Skeldons aufgewachsen; aus McGeorge wird „Mac“, aber was macht man mit Harcourts, wenn man Kosenamen sucht? Und was bei einem Mädchen, das Palmer oder Coate heißt? Eine andere Welt, diese WASPs, eine andere Welt. Scheidung! Die Mutter (Mrs. X.Y.Z.) lebt in Chikago, der Vater (Mr. A.B.C. III.) lebt außerhalb von Philadelphia. Meine Eltern, bei denen im kommenden August der dreißigste Hochzeitstag ansteht, haben sich während meiner ganzen Jugend angeschrien: Scheidung, Scheidung, Scheidung, ich hab die Schnauze voll, ich ziehe aus und kehre nie zurück! Die gewöhnliche Art von Menschen der Mittelschichten, nicht zusammenzupassen. Aber Scheidung? Zu einem Anwalt gehen? Mein Vater wäre lieber unbeschnitten gewesen, als das zu tun. Meine Mutter wäre eher nackt durch Gimbels gelaufen. In jeder jüdischen Familie existiert eine Tante, die einmal geschieden wurde, vor langer Zeit, wir reden jetzt nicht mehr darüber. (Man findet so etwas immer heraus, wenn man zwei ältere Verwandte verstohlen Erinnerungen austauschen hört.) Aber niemals jemand, der Kinder hatte. Man hat nie diese Anhäufungen von Eltern, die solche verwickelten Vorstellungen nötig machen: Ich möchte dich mit meiner Mutter und ihrem Mann bekannt machen, ich möchte dir meinen Vater und seine Frau vorstellen.