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12. Kapitel

Oliver

Ich bin fünf Stunden ohne Pause gefahren. Es war wunderbar. Sie wollten anhalten, um zu pissen, die Beine auszustrecken, Hamburger zu kaufen, dieses oder jenes, aber ich habe gar nicht darauf reagiert. Ich bin einfach weitergefahren. Mein Fuß war auf dem Gaspedal festgeklebt, meine Finger ruhten leicht auf dem Steuer, und ich saß kerzengerade, die Augen hatten sich daran gewöhnt, einen Punkt fünf bis zehn Meter vor der Windschutzscheibe zu fixieren. Der Rhythmus der Bewegung hatte von mir Besitz ergriffen. Es war beinahe ein sexueller Akt: das lange, glänzende Auto schnellt nach vorn, vergewaltigt den Highway und ich als Kommandeur; ich empfand richtig Lust dabei. Eine Zeitlang hatte ich echt einen stehen. Letzte Nacht, mit diesen Huren, die Timothy aufgegabelt hatte, war ich nicht mit dem Herzen dabei. Nun, drei Runden habe ich mit meiner gedreht, aber nur, weil es von mir erwartet wurde, und in meiner sparsamen, bäuerischen Art wollte ich Timothys Geld nicht verschwenden. Dreimal habe ich geknallt, so drückte sich das Mädchen jedenfalls aus: „Willst du noch einen Knaller loslassen, Schatz?“ Aber hier im Wagen, mit dem langen, kraftvollen, unendlichen Drang der Zylinder, ist das praktisch eine Art Beischlaf, das ist Ekstase. Ich glaube, ich kann jetzt verstehen, was die Motorrad-Freaks fühlen. Wir fuhren auf der Route 66, durch Joliet, Bloomington und dann in Richtung Springfield. Nicht viel Verkehr, reihenweise Laster an manchen Stellen, aber sonst so gut wie nichts, und die Telefonmasten huschen die ganze Zeit flick-flick-flick an mir vorüber. Eine Meile in der Minute, dreihundert Meilen in fünf Stunden, sogar für mich ein ausgezeichneter Durchschnitt im Vergleich zu meinen Fahrten im Osten. Leere, platte Felder, manche immer noch mit Schnee bedeckt. Klagen von den Hinterbänklern, Eli nennt mich einen gottverdammten Fahrroboter. Ned nörgelt, ich solle anhalten. Ich tat so, als hätte ich nichts gehört. Schließlich ließen sie mich in Ruhe. Timothy schlief die meiste Zeit. Ich war King of the road. Gegen Mittag wurde es klar, daß wir in ein paar weiteren Stunden in St. Louis sein würden. Nach unserem Plan wollten wir dort übernachten, aber dieses Vorhaben war jetzt hinfällig geworden. Als Timothy aufwachte, holte er die Landkarten und Touristenführer heraus und begann damit, den nächsten Halt unserer Reise zu bestimmen. Er und Eli stritten sich über die Art, wie Timothy alles vorplante. Ich schenkte dem nicht viel Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich vertrat Eli den Standpunkt, daß wir, als wir Chikago verlassen hatten, eher nach Kansas City als nach St. Louis hätten fahren sollen. Das hätte ich ihnen auch vorher sagen können, aber ich kümmerte mich nicht darum, für welche Route sie sich entschieden; jedenfalls hatte ich weniger Lust, noch mal durch Kansas zu fahren. Timothy war gar nicht aufgefallen, wie nahe Chikago und St. Louis beieinander liegen, als er die Route zuerst aufgestellt hatte.

Ich hörte nicht mehr auf ihr Gezänk und dachte einige Zeit über etwas nach, das Eli letzte Nacht gesagt hatte, als wir durch die Stadt liefen und Sehenswürdigkeiten bewunderten. Für meinen Geschmack gingen sie nicht schnell genug, und ich versuchte sie mit Meckern zur Eile zu bewegen. Und Eli sagte: „Du verschlingst diese Stadt geradezu, nicht wahr? Wie ein Tourist in Paris.“

„Ich war vorher noch nie in Chikago“, erklärte ich ihm. „Ich möchte soviel mitbekommen wie eben möglich.“

„Okay, das ist ein Standpunkt“, sagte er. Aber ich wollte wissen, warum er so überrascht darüber war, daß mich bei fremden Städten die Neugierde packte. Er machte einen unglücklichen Eindruck und schien am liebsten das Thema wechseln zu wollen. Ich stichelte ihn. Schließlich sagte er mit diesem feinen Lächeln, das er immer aufsetzt, um jemandem klarzumachen, daß das, was er jetzt sagen will, durchaus beleidigend wirken kann, man soll das aber nicht zu ernst nehmen. „Ich frage mich nur, wie jemand, der so normal erscheint, mit so gut geordneten Vorstellungen, überhaupt daran interessiert sein kann, so fanatisch eine Stadt zu besichtigen.“

Ungewollt führte er weiter aus: Für ihn, Eli, seien der Hunger nach Erfahrungen, die Begierde nach Wissen, der Eifer festzustellen, was hinter dem nächsten Hügel liegt, in erster Linie Merkmale derjenigen, die auf irgendeine Weise unterprivilegiert sind — Mitglieder von Minderheiten, Menschen mit körperlichen Gebrechen und Fehlern, diejenigen, die sozial benachteiligt sind und so weiter. Ein großer, gutaussehender, muskulöser Typ wie ich, sei nicht dafür vorgesehen, die Neurosen zu haben, die die intellektuelle Wißbegierde hervorruft.

Man erwarte von mir eher, daß ich ausgeglichen und entspannt sei, wie Timothy. Meine kleine Offenbarung von Neugierde entsprach nicht meinem Charakterbild, zog man Elis Vortrag darüber in Betracht, wie mein Charakter auszusehen habe. Und weil er so an diesen ethischen Kram glaubt, erwartete ich schon, daß er mir erklärte, der Wunsch zu lernen, sei ein fundamentaler Charakterzug seines Volkes, von ein paar ehrenwerten Ausnahmen abgesehen.

Aber so richtig rückte er damit nicht heraus, obwohl er das wahrscheinlich dachte. Ich fragte mich und tue das heute immer noch, warum er glaubt, mein Leben verliefe in geordneten Bahnen. Darf man nur bis ein Meter siebzig sein und eine Hängeschulter haben, um die Besessenheit und die Zwänge zu besitzen, die Eli mit Intelligenz gleichsetzt? Eli unterschätzt mich; er hat ein Stereotypbild von mir: der große, einfältige, schöne Goy. Ich würde ihn gern einmal in meinen heidnischen Schädel blicken lassen.

Wir näherten uns jetzt St. Louis, rasten auf einem leeren Interstate Highway durch offenes Farmland; dann hinein in etwas Feuchtes und Düsteres, das sich selbst Ost-St.-Louis schimpft. Schließlich fuhren wir durch den strahlenden Gateway Arch, undeutlich breitete sich vor uns der Strom aus. Wir erreichten eine Brücke. Die Vorstellung, den Mississippi zu überqueren, betäubte Eli. Er streckte Kopf und Schulter aus dem Wagen und starrte nach draußen, als führen wir über den Jordan. Als wir auf der St.-Louis-Seite des Stroms waren, hielt ich den Wagen vor einem beleuchteten, kreisrunden Lädchen an. Die drei rasten aus dem Auto und torkelten wie Wahnsinnige herum. Ich verließ den Fahrersitz nicht. In meinem Kopf drehten sich noch die Räder. Fünf Stunden ununterbrochene Fahrt. Ekstase! Schließlich erhob ich mich. Mein rechtes Bein war taub. Die ersten fünf Minuten mußte ich humpeln. Aber das war mir diese fünf wunderbaren Stunden wert, diese Stunden, die ganz mir gehört hatten, allein mit dem Wagen und dem Highway. Ich bedauerte, daß wir überhaupt angehalten hatten.