Es war mir unerträglich: Geld beiseite legen, Prüfungen machen, ein Stipendium beantragen, Latein, Deutsch, Anatomie, Physik, Chemie und Biologie lernen, sich den Kopf mit Problemen zu zerbrechen, die größer waren als alles, was mein Vater kennengelernt hat — und dann einfach sterben? Mit fünfundvierzig Jahren sterben oder mit fünfundfünfzig oder mit fünfundsechzig oder vielleicht wie mein Vater mit sechsunddreißig? Gerade wenn man anfängt, sein Leben zu leben, muß man sich schon wieder daraus verabschieden. Warum soll man überhaupt diese Anstrengung auf sich nehmen? Warum sich dieser Ironie ausliefern? Man denke nur an Präsident Kennedy: All die Energie und Geschicklichkeit, die er aufbrachte, um ins Weiße Haus einzuziehen — und dann eine Kugel in den Kopf. Das Leben ist nur Verschwendung. Je mehr Erfolg man dabei hat, etwas aus sich zu machen, um so bitterer wird dann der Umstand, sterben zu müssen. Ich mit meinen Ambitionen, meinem inneren Drang, ich bereitete mich nur auf einen tieferen Fall vor als die meisten anderen. Im Bewußtsein dessen, daß ich ja sowieso irgendwann sterben mußte, entschloß ich mich, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen und mich selbst umzubringen, bevor ich schon zu tief in diesem miesen, unausweichlichen Scherz steckte, der mich erwartete.
Das redete ich mir mit sechzehn Jahren ein. Ich fertigte Auflistungen von in Frage kommenden Todesarten an. Die Pulsadern aufschneiden? Den Gashahn aufdrehen? Eine Plastiktüte über den Kopf stülpen? Ein Verkehrsunfall mit einem Auto? Dünnes Eis im Januar? Ich hatte fünfzig verschiedene Arten zusammen. Ich ordnete sie in einer Hitparade an. Ich gruppierte sie wieder um. Ich wog den kurzen, schmerzvollen Tod gegen den langsamen, schmerzlosen ab. Ungefähr ein halbes Jahr lang studierte ich den Selbstmord so intensiv, wie Eli unregelmäßige Verben lernt. Zwei von meinen Großeltern starben in diesen sechs Monaten. Mein Hund starb. Mein älterer Bruder fiel im Krieg. Meine Mutter hatte ihren ersten schlimmen Herzanfall, der Arzt erklärte mir vertraulich, daß sie kaum noch ein Jahr vor sich habe, und er behielt recht. Alles dies hätte meine Entscheidung nur noch bestärken sollen: Mach Schluß, Oliver, mach Schluß, und zwar jetzt, bevor der Kreis der Tragödien sich noch enger um dich schließt! Du mußt wie alle anderen sterben, warum dann noch warten, bis es soweit ist. Stirb jetzt. Stirb jetzt. Halse dir nicht noch unnötige Probleme auf. Seltsamerweise jedoch erlosch mein Interesse am Selbstmord schnell, obwohl meine Lebensphilosophie sich eigentlich nicht änderte. Ich stellte die Selbstmord-Hitparaden ein. Ich begann damit, nach vorn zu planen und nicht mehr davon auszugehen, daß ich innerhalb der nächsten Monate sowieso ableben würde. Ich beschloß, lieber den Tod zu bekämpfen, statt mich ihm zu ergeben. Ich würde aufs College gehen, und ich würde Mediziner werden. Ich würde alles lernen, dessen ich habhaft werden könnte, und vielleicht könnte ich die Macht des Todes ein wenig zurückdrängen. Jetzt weiß ich, daß ich nie selbst Hand an mich legen könnte. Ich werde es einfach nicht tun, niemals. Ich werde bis zum Ende kämpfen, und wenn der Tod kommt und mich höhnisch angrinst, dann grinse ich einfach zurück. Und davon abgesehen, ich für meinen Teil halte das Buch der Schädel für authentisch! Man stelle sich nur einmal vor, man könnte dem Tod wirklich von der Schippe springen! Ich hätte mich ja vor fünf Jahren selbst hereingelegt, wenn ich mir wirklich die Pulsadern aufgeschnitten hätte.
Heute bin ich sicher schon vierhundert Meilen gefahren, und es ist noch nicht einmal Mittag. Die Straßen hier sind großartig: breit, gerade und leer. Amarillo liegt jetzt vor uns. Dann Albuquerque. Und dann Phoenix. Und schließlich stehen wir endlich vor des Rätsels Lösung.
16. Kapitel
Eli
Wie fremdartig die Welt doch in dieser Ecke aussieht: Texas, New Mexico. Eine Mondlandschaft. Warum hat sich überhaupt jemand gefunden, der sich in diesem Landstrich niederlassen wollte? Weite braune Plateaus, kein Gras, nur verdrehte, struppige, schmierige graugrüne Pflanzen. Kahle, purpurfarbene Berge, zackig und scharf ragen sie am herben, blauen Horizont wie erodierte Zähne hoch. Ich dachte immer, die Berge im Westen seien höher, als das hier zu sehen war. Timothy, der schon überall gewesen ist, erklärt, daß die wirklich hohen Berge in Colorado, Utah und Kalifornien stehen; diese hier seien nur Hügel, so fünfzehnhundert bis zweitausend Meter hoch. Das verwunderte mich; denn der höchste Berg östlich des Mississippi ist der Mount Mitchell in North Carolina, und der ist 2037 Meter hoch. Deswegen habe ich einmal eine Wette verloren, als ich zehn war, und ich werde es nie vergessen. Der höchste Berg, den ich vor dieser Reise je gesehen hatte, war der Mount Washington in New Hampshire, knapp 2000 Meter hoch. Meine Eltern hatten mich dorthin mitgenommen in jenem Jahr, in dem wir nicht in die Catskills gefahren waren. (Ich hatte damals gewettet, der Mount Washington sei der höchste, und hatte falsch gelegen.) All die Berge hier sind fast genauso hoch und sollen nur Hügel sein. Der Mount Washington erhob sich damals wie ein Riesenbaum in den Himmel, als sei er bereit, herabzustürzen und mich zu zerschmettern. Natürlich hat man hier eine viel weitere Aussicht, die Landschaft ist nach allen Seiten offen. Hier wird sogar ein Berg in dieser immensen Aussicht zum Zwerg.
Die Luft ist klar und frisch, der Himmel unvergleichlich blau und wolkenleer. Dies ist das Land der Apokalypse: Ich bin bereit, irgendwo aus den „Hügeln“ den Schall von Trompeten zu hören. Und wunderbar wird der Klang von Trompeten hervorströmen, durch die Gräber der Erde erklingen, um vorzubereiten die Ankunft des Herrn. Jawohl. Und der Tod wird gelähmt sein. Dreißig, vierzig Meilen trennen hier die Städte voneinander, und wir sehen nur Kaninchen, Rehe und Eichhörnchen. Die Städte selbst wirken neu: Tankstellen, Motels in Reih und Glied, kleine viereckige Aluminiumhäuser, die so aussehen, als könne man sie an einen Wagen hängen und mit ihnen woanders hinfahren. (Wahrscheinlich ist das sogar möglich.) Außerdem sind wir an zwei Pueblos vorbeigekommen, sechs- oder siebenhundert Jahre alt, und wir werden mehr zu sehen bekommen. Die Vorstellung, aufrichtige Indianer zu treffen, die einfach so überall in der Gegend herumspazieren, sprengt meinen manhattanbeeinflußten Verstand. In den Technicolor-Filmen, die ich jahrelang jeden Samstagnachmittag in den Kinos der Dreiundsiebzigsten Straße und am Broadway sah, gab es Indianer in Hülle und Fülle. Aber die beeindruckten mich nicht, und in meiner coolen Kinderweisheit wußte ich, daß es sich bei ihnen nur um Puertoricaner oder vielleicht Mexikaner handelte, die man mit Federn herausgeputzt hatte. Wirkliche Indianer waren Schnee aus dem neunzehnten Jahrhundert, sie waren alle ausgestorben vor langer Zeit, keiner war mehr übriggeblieben, außer dem auf dem Fünf-Cent-Stück, mit dem Büffel auf der Rückseite. Und wann hat man eigentlich zum letztenmal so ein Fünf-Cent-Stück gesehen? (Wann hat man zum letztenmal einen Büffel gesehen?) Indianer waren archaisch, Indianer waren ausgestorben. Ich persönlich stellte die Indianer in eine Reihe mit den Mastodons, dem Tyrannosaurus Rex, den Sumerern und den Karthagern. Aber jetzt bin ich im Wilden Westen, zum erstenmal in meinem Leben, und der plattgesichtige, lederfarbene Mann, der uns mittags das Bier im Laden verkaufte, war ein Indianer, der rundliche, dicke Junge, der uns den Tank füllte, war ein Indianer; und diese elenden Hütten, die auf der anderen Seite des Rio Grande stehen, werden von Indianern bewohnt, obwohl man über den Luftziegeldächern einen Wald von Fernsehantennen sehen kann. Guck mal, Indianer, Dick! Mensch da, die riesigen Kakteen! Da, Jane, sieh, der Indianer fährt einen Volkswagen! Sieh nur, wie scharf Ned den Indianer überholt! Hör nur, wie der Indianer hupt!