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Ich glaube, unser Engagement für dieses Abenteuer ist wieder gestiegen, seit wir den Rand der Wüste erreicht haben. Zumindest bei mir ist das so. Dieser fürchterliche Tag der Zweifel, an dem wir durch Missouri gefahren sind, scheint jetzt so weit zurückzuliegen wie die Dinosaurier. Ich weiß jetzt (Woher weiß ich das? Wieso kann ich so etwas sagen?), daß das, was wir im Ödland Arizonas zu finden hoffen, wahr ist, und daß wir, wenn wir nur standhaft bleiben, dafür mit dem belohnt werden, was wir erstreben. Oliver weiß das auch. Eine unheimliche, verrückte Beharrlichkeit ist in den letzten paar Tagen in ihm erwacht. Natürlich steckte diese Tendenz zur Zwangsvorstellung schon immer in ihm, aber er hat zunächst einmal gut daran getan, sie zu verbergen. Jetzt sitzt er zehn bis zwölf Stunden täglich am Steuer, muß gewaltsam am Weiterfahren gehindert werden und macht nur allzu deutlich, daß ihm nichts wichtiger ist, als unser Ziel zu erreichen und uns den Vorschriften der Hüter der Schädel zu unterwerfen. Sogar unsere ungläubigen Thomasse finden ihren Glauben wieder. Ned treibt zwischen völliger Zustimmung und totaler Ablehnung hin und her, wie immer. Und oft genug bezieht er beide Positionen gleichzeitig; er verhöhnt uns, stichelt uns, und trotzdem studiert er Landkarten und Entfernungsangaben, als hätte ihn ebenso die Ungeduld gepackt. Ned ist der einzige Mensch, den ich kenne, der fähig ist, einen Morgengottesdienst zu besuchen und um Mitternacht eine Schwarze Messe, und der trotzdem keinen Widersinn darin sieht, seine Sympathien auf beide Messen gleich zu verteilen. Timothy bleibt weiterhin neutral, der brillante Spötter, er verwahrt sich dagegen, daß er seine entrückten Freunde nur verarscht, indem er an dieser Pilgerfahrt teilnimmt — aber wieviel von seinem Gehabe mag nur Oberfläche sein, ist Zurschaustellung aristokratischer Gelassenheit? Wahrscheinlich mehr, als man ahnt, glaube ich. Timothy hat weniger Anlaß als der Rest von uns, metaphysischen Lebensverlängerungen nachzulaufen, denn sein eigenes Leben bietet ihm, so wie es jetzt eingerichtet ist, eine unbegrenzte Anzahl von Möglichkeiten — seine finanziellen Quellen bieten ihm genau das, was man von ihnen erwartet. Aber Geld ist nicht alles, und man kann damit auch nicht die Lebenserwartung von siebzig Jahren überschreiten, selbst wenn man Fort Knox geerbt hat. Ihn lockt die Vision vom Haus der Schädel, glaube ich. Er ist scharf darauf.

Sobald wir unser Ziel erreichen, morgen oder übermorgen, werden wir, so glaube ich, zu der zusammenstehenden Vierergemeinschaft verwachsen sein, die das Buch der Schädel einen Fruchtboden nennt, was soviel wie eine Gruppe von Kandidaten bedeutet. Ich hoffe es jedenfalls. War doch im letzten Jahr — oder? —, als soviel Wind über diese Studenten aus dem Mittelwesten gemacht wurde, die einen Selbstmordbund geschlossen hatten? Ja. Ein Fruchtboden kann als philosophische Antithese zum Selbstmordbund angesehen werden. Beide stellen eine Manifestation von Fremdartigkeit gegenüber der gegenwärtigen Gesellschaft dar. Ich verabscheue die Ekelhaftigkeit eurer Welt ganz und gar, sagte das Mitglied des Selbstmordbundes; deshalb entscheide ich mich für den Tod. Ich verabscheue die Ekelhaftigkeit eurer Welt ganz und gar, sagt das Mitglied des Fruchtbodens; deshalb entscheide ich mich, nie zu sterben, in der Hoffnung, einmal bessere Zeiten zu sehen.

17. Kapitel

Ned

Albuquerque: eine düstere Stadt, meilenweit Vororte, eine endlose Kette von grellen Motels entlang der Route 66, eine armselige, billige, touristische alte Stadt am Arsch der Welt. Wenn schon als Tourist in den Westen, dann bitte schön lieber Santa Fé mit seinen Luftziegel-Geschäften, seinen hübschen Häusern auf den Hügeln, seinen paar wirklichen Überresten aus der vergangenen spanischen Kolonialzeit. Aber dahin fahren wir gar nicht. Hier verlassen wir die Route 66 schließlich und fahren Richtung Süden auf der 85 und der 25 bis fast an die mexikanische Grenze weiter, bis Las Cruces, wo wir auf die Route 70 wechseln, die uns direkt nach Phoenix bringt. Wie lange sind wir jetzt schon gefahren? Zwei Tage, drei, vier? Ich komme mit der Zeitrechnung nicht mehr klar. Stundenlang sitze ich hier und sehe Oliver beim Fahren zu. Gelegentlich fahre ich auch selbst, oder Timothy springt ein. Die Räder stoßen an meine Seele, der Vergaser schießt in meinen Bauch, die Grenze zwischen Fahrgast und Fahrzeug verwischt. Wir sind alle Teil dieses nach Westen rollenden, schnaubenden Monstrums geworden. Amerika breitet sich hinter uns vergast aus. Chikago ist jetzt nur noch eine Erinnerung, St. Louis nur ein schlechter Traum. Joplin, Springfield, Tulsa, Amarillo — unwirklich geworden, ein Mangel an Substanz. Ein Kontinent voll zusammengedrückter Gesichter und kleingeistiger Seelen liegt dort hinten. Fünfzig Millionen Fälle von regelmäßigen Menstruationskrämpfen erbeben im Osten, es gibt nichts, was uns gleichgültiger wäre. Eine Seuche von pubertären Ejakulationen verbreitet sich über die großen Metropolen. Alle männlichen Heterosexuellen über siebzehn Jahren in Ohio, Pennsylvania, Michigan und Tennessee sind von einem Ausbruch blutsturzartiger Hämorrhoiden dahingerafft worden, und Oliver fährt immer weiter und schert sich einen Dreck um alles.

Ich mag diesen Teil des Landes. Er ist offen, ohne Ballungen, fast wagnerisch und hat einen angenehmen Western- und Lager-Touch an sich: Man sieht die Männer mit den zusammengebundenen Schlipsen und den Riesenhüten, man sieht die Indianer, die in Türeingängen schlafen, man sieht das Unterholz, wie es die Abhänge bedeckt, und man weiß genau, das ist richtig so, alles ist so, wie es sein soll. Damals, im Sommer als ich achtzehn war, hielt ich mich oft in Santa Fé auf und lebte mit einem verträglichen, wettergegerbten, sonnenverbrannten Händler um die Vierzig zusammen, der indianische Artefakte verkaufte. Er war ein Mitglied der homophilen Internationale, ein Funktionär mit Karte der internationalen Pervo-Devo-Verschwörung. Man sagt, daß schon etwas Besonderes geschehen muß, bis einer von ihnen sich offenbart. Aber in seinem Fall bedurfte es keiner großen Anstrengung: Er lispelte, sprach mit besonderem Akzent, er war eben eine Tunte. Neben manch anderem brachte er mir das Autofahren bei. Den ganzen August über ging ich für ihn auf Tour und suchte seine Lieferanten auf; er kaufte alte Töpfe zu fünf Dollar auf und verkaufte sie für fünfzig an Antiquitäten suchende Touristen weiter. Immer auf der Hut und schnell wieder verschwunden. Vereinzelt unternahm ich auch bedrohliche Fahrten, spürte vom Ellenbogen an den Arm nicht mehr, fuhr nach Bernalillo, bis nach Farmington, bis ins Rio-Puerco-Land, sogar eine ausgedehnte Expedition raus zu den Hopi, zu allen möglichen Plätzen, wo die Fahrer ungeachtet der örtlichen Gebäudeschutz-Vorschriften ihre Beutezüge durch noch nicht ausgegrabene, verfallene Pueblos machen und verkäufliche Waren herausfischen. Auch traf ich auf eine Menge Indianer, von denen viele (Überraschung!) schwul waren. Ich erinnere mich gern an einen wirklich tollen Navajo. Und an einen protzigen Tao, der, nachdem er einmal meine Vertrauenswürdigkeit erkannt hatte, mich in eine Kiwa hinunterführte und mich dort in einige Geheimnisse seines Stammes einweihte. Er vermittelte mir ethnographische Daten, für die mancher Gelehrte zweifellos seine Vorhaut hergegeben hätte. Eine interessante Erfahrung. Wirklich super. Ich meine, ich will damit der Welt sagen, daß nicht nur das Arschloch sich weitet, wenn man schwul ist.

Heute nachmittag gab es Ärger mit Oliver. Ich fuhr, irgendwo auf der 25 zwischen Belen und Socorro, und fühlte mich leicht und vergnügt, denn jetzt war ich der Herr des Autos und nicht nur irgendein Teil des Getriebes. Eine halbe Meile vor mir entdeckte ich eine Gestalt, die auf unserer Straßenseite entlangwanderte, wahrscheinlich ein Anhalter. Rein instinktiv verlangsamte ich die Fahrt. Tatsächlich, ein Anhalter, mehr noch, ein Hippie, einer, der aus dem Jahr 1967 übriggeblieben war, mit schäbigem Haar, einer Fellweste auf nackter Brust, einem Stars-and-Stripes-Flicken am Gesäß seiner Röhrenjeans, einem Rucksack, ohne Schuhe. Wahrscheinlich wollte er zu einer der Wüstenkommunen und wanderte zu Fuß und allein von nirgendwo nach nirgendwo. Nun, in einem gewissen Sinn waren wir ja ebenfalls zu einer Kommune unterwegs, und ich dachte mir, wir könnten ihn ein Stück mitnehmen. Ich bremste und brachte den Wagen beinahe zum Stehen. Er sah auf, erwartete irgendeinen Wahnsinnsakt — er hatte wohl einmal zu oft Easy Rider gesehen — und war gefaßt auf den Gewehrschuß eines guten Amerikaners. Aber die Angst verschwand aus seinem Gesicht, als er entdeckte, daß wir auch Jugendliche waren. Er grinste, hatte Lücken zwischen den Zähnen, und ich konnte in Gedanken schon die gemurmelten, anerkennenden Höflichkeiten hören, wie etwa: ‚Wow, is’ aber scharf von dir, Mann, mich aufzulesen, weißte, is’ n langer Weg, eh, die Typen hier wollen dir nicht helfen, kennste doch, Mann’, als Oliver schlicht meinte: „Nein.“